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Berliner Morgenpost: Revolution für die Freiheit - Leitartikel

Berlin (ots)

20 Jahre Mauerfall - das klingt so leicht, fast
läppisch, als sei da vor 20 Jahren etwas zusammengefallen. Einfach 
so, weg war die Mauer? Der fast zur Marke geronnene Begriff führt in 
die Irre. Was wir heute feiern, sollte anders heißen: 20 Jahre 
friedliche Revolution für die Freiheit.
Nichts anderes war es: eine Revolution mit allen Risiken für Leib und
Leben der Akteure. Eine friedliche Revolution, was angesichts der 
heutigen Erkenntnisse, wie millimeterknapp man einer gewaltsameren 
Niederschlagung der Demonstrationen entronnen ist, eine glückliche 
Sensation ist. Und es war eine friedliche Revolution für die 
Freiheit, gegen eine Gewaltdiktatur der Unfreiheit, der 
Menschenrechtsunterdrückung und Menschenverachtung. Kerzen und 
Gesänge haben in Leipzig, Berlin und anderswo die in Stellung 
gebrachten Panzer und Geschosse zum Schweigen angehalten. Der Wille 
des Volkes war stärker als die Macht der Funktionäre.
Wir feiern heute den Mut der Menschen, die Freiheit über alles 
gestellt, alles riskiert und alles gewonnen haben. Die Mauer ist 
nicht gefallen, sie ist zu Fall gebracht worden.
Es gibt zahlreiche bekannte Akteure, ohne die die deutsche Einheit 
nie möglich geworden wäre, Bürgerrechtler wie Biermann, Havemann oder
Fuchs, Politiker wie Gyula Horn, Genscher und vor allem Helmut Kohl, 
und natürlich der Verleger Axel Springer, der Jahrzehnte mutiger und 
unverdrossener als jeder andere gegen den Zeitgeist für eine 
friedliche deutsche Wiedervereinigung gesprochen, geschrieben und 
gehandelt hat. Doch bei allem berechtigten Dank an diese Wegbereiter 
und Gestalter: Vor allem feiern wir heute einen Gedenktag für die 
stillen, anonymen Helden der Revolution.
Die Deutschen tun das - natürlich - ohne Pathos. Pathos liegt uns 
nicht mehr. Und das Pathos der Freiheit erst recht nicht. Stattdessen
war in den vergangenen 20 Jahren viel Genörgel. Es ist interessant, 
heute noch einmal nachzulesen, wer damals, noch lange nach dem 9. 
November, gegen die Wiedervereinigung polemisierte - und heute so 
tut, als sei er schon immer dafür gewesen. Es ist aufschlussreich, 
heute noch einmal nachzuvollziehen, mit welch kleinlichen und dummen 
Argumenten damals gegen die Einheit agitiert wurde: zu teuer, nur dem
Konsumterror verhaftet, außenpolitisch zu gefährlich, bei einer 
behutsamen Reform der DDR gar nicht nötig, hieß es damals; sogar ein 
neuer Nationalismus wurde heraufbeschworen und dass die Deutschen 
bald wieder in Schaftstiefeln über den Linden-Boulevard paradieren 
würden. Heute mag sich daran keiner mehr erinnern. Es ist uns 
peinlich. Damals war es schick, über Bananen und blühende 
Landschaften zu lachen. Heute nehmen wir das alles lässig als 
Selbstverständlichkeiten hin. Und viele sehnen sich schon wieder nach
mehr Gleichheit. Man müsse es ja mit der Freiheit nicht übertreiben.
Die Freiheit ist ein "sonderbar Ding". Sie ist unbequem, sie verlangt
dem Einzelnen viel mehr ab als ein Leben unter der süßen Droge der 
Fremdbestimmung. Man ist für sich selbst verantwortlich. Das ist 
Arbeit, Entscheidung, Verantwortung. Deswegen fremdeln gerade viele 
Deutsche damit und flüchten sich lieber unter die scheinbar 
schützenden Fittiche eines allzuständigen Umverteilungsstaates, der, 
indem er nur das Beste für seine unmündigen, ergo: 
unzurechnungsfähigen Bürger zu wollen vorgibt, zum freundlichen 
Würgegriff ansetzt.
Freiheit ist unbequem. Aber die Freiheit, zu sagen, was man denkt, 
die Freiheit, zu lieben, wen und wie man will, die Freiheit, zu 
glauben, was man möchte, die Freiheit, hochzusteigen und tief zu 
fallen, unterscheidet den Menschen vom Tier, das schillernde 
Individuum vom farblosen Kollektivwesen. Freiheit hat immer auch mit 
Grenzüberschreitung, Exzessen, Missbräuchen zu tun. Kontrollierte 
Freiheit, gelenkte Freiheit, perfekte Freiheit gibt es nicht. Die 
Freiheit ist wie das Leben - wild, widersprüchlich, wunderschön, aber
nie vollkommen.
20 Jahre nach der friedlichen Revolution für die Freiheit müssen wir 
uns fragen, ob wir die Freiheit, mit allem, was dazugehört, wirklich 
wollen. Denn die Freiheit ist, wie der Künstler Stephan Balkenhol es 
in seiner für den Axel Springer Verlag geschaffenen 
Mauerläuferskulptur gezeigt hat, auch ein "Balanceakt". Man kann 
schwanken, taumeln und wieder abstürzen. Wenn man das nicht will, 
muss man kämpfen. Die friedliche Revolution für die Freiheit hat 
gerade erst begonnen. Oder, wie es der Freiheitskünstler Joseph Beuys
in einer berühmten Arbeit 1972 zitiert hat: "La rivoluzione siamo 
noi" (Die Revolution sind wir).

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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