BERLINER MORGENPOST: Viagra für die müde gewordene Demokratie - Leitartikel
Berlin (ots)
In dieser Woche hat sich das deutsche Parlament um die Demokratie im Lande verdient gemacht. Die erste Lesung des ersten Haushaltsentwurfs der schwarz-gelben Regierung offenbarte nach Jahren der großen Koalition endlich wieder weit mehr als den üblichen Streit über Zahlen und rund gefeilte Kontroversen. Um die Zukunft Deutschlands wurde sachlich wie emotional gerungen wie schon lange nicht mehr. Mit dem Ergebnis, dass wieder klare politische Alternativen erkennbar sind. Die sind in einer funktionierenden Demokratie nötig, die aus ihrem Selbstverständnis auf Streit, auf das Ringen um den richtigen Weg angelegt ist. Klare Unterschiede zwischen den Parteien, zwischen Regierung und Opposition machen Demokratie spannend, geben dem Bürger das Gefühl, tatsächlich in der Politik etwas mit entscheiden zu können. Die sich ausbreitende Politikverdrossenheit hat ja ganz wesentlich auch damit zu tun, dass sich das Gefühl verstärkt hat, mit der Wahlentscheidung angesichts des Einheitsbreis der großen Parteien gar nichts verändern zu können - dass Engagement also nichts bewirke. Diese resignative Haltung könnte nun aufgeweicht werden. Dass SPD-Chef Sigmar Gabriel und Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Beratung über den Einzeletat des Kanzleramts, der traditionell zur Generalabrechnung der Opposition mit der Regierung genutzt wird, hart und leidenschaftlich debattierten, das ist wie ein Durchlüften im muffig gewordenen Politikbetrieb. Die pure Not trieb beide zu diesem Duell. Gabriel musste scharf attackieren, um auch im eigenen Lager zu punkten, da ihm die Grünen in den Umfragen immer dichter auf den Pelz rücken. Angela Merkel andererseits musste angesichts der miesen Stimmung in den Reihen der Union wie im ganzen Land gegenüber Schwarz-Gelb endlich Führungsstärke und damit Willen zu Entscheidungen bekunden. Dabei ging es um weit mehr als die Zukunft der Kernenergie, gegen die heute Zehntausende in Berlin demonstrieren wollen, die Rente mit 67 oder Kürzungen rund um Hartz IV. Dass die Kanzlerin ausgerechnet auch noch für das selbst im bürgerlichen Lager höchst umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 kämpfte, die Landtagswahl in Baden-Württemberg im März damit zur Abstimmung über den Milliardenbau und auch über ihre eigene Politik hochstilisiert, signalisiert Größeres. Gefunden scheint der bislang vermisste politische Überbau von Schwarz-Gelb: Sicherung der Zukunft. Ob dieses grobe Raster, das dem anderen Lager ja zugleich Realitätsverweigerung und damit Zukunftsferne attestiert, tatsächlich verfängt, bleibt vorerst fraglich. Aber die neue Polarisierung sorgt für Trennschärfe, macht die politischen Alternativen wieder deutlich und belebt das Interesse am politischen Geschehen. Das allein tut der müde gewordenen Demokratie im Lande schon mal gut.
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