BERLINER MORGENPOST: Kommentar von Susanne Leinemann zur Jugendgewalt in Berlin
Berlin (ots)
Eine Frau aus Wilmersdorf geht an einem Samstagabend kurz raus, um am Kiosk Zigaretten zu holen - keineswegs spät, die "Tagesschau" ist gerade vorbei. Zwei Maler trinken ihr Feierabendbier in Lichtenberg, dann machen sie sich auf den Heimweg. Ein Familienvater aus Karlshorst verlässt um Mitternacht gut gelaunt eine Party. Der Koch eines bekannten schwäbischen Restaurants in Wilmersdorf feiert seinen letzten Arbeitstag, es wird spät - sein Abschiedsumtrunk. Was diese fünf verbindet? Keiner von ihnen kommt heil zu Hause an. "Hey, Alter", hätten die Jugendlichen ihn angesprochen, als er durch die Pariser Straße zu seiner Wohnung ging. "Hey, Jungs", habe er geantwortet. Das ist alles, woran der Koch sich noch erinnert. Man findet ihn später bewusstlos im Schnee, es ist der bitterkalte Dezember 2010. Sein Geld ist weg - er wurde überfallen, niedergeschlagen und liegen gelassen wie Abfall. Ausgeraubt von brutalen, hemmungslosen Jugendlichen. Wie die Zigaretten holende Frau in der Laubacher Straße, wie der Maler Marcel im Bahnhof Lichtenberg, der seither im Koma um sein Leben kämpft. Ein Überfallopfer auch der 47-jährige Familienvater aus Karlshorst - erst viele Stunden später wird er am 21.November 2010 völlig unterkühlt von einer Passantin gefunden, Turnschuhe und Rucksack sind weg. Auch er wird länger im Koma liegen, auch ihn trafen Schläge gegen den Kopf - nur hundert Meter von seiner Wohnung entfernt. Sein Fall war nur eine Minimeldung in den Zeitungen. Berlin war immer eine Großstadt, in der man sich sicher fühlte. "Kreuzberger Nächte sind lang" - der Schlager beschreibt dieses Lebensgefühl. Egal wann, egal wo, egal wie heftig man gefeiert hatte, am Ende kam man sicher heim. Ob Berliner oder Touristen, alle genossen das Gefühl, überall hingehen zu können. In jeden Stadtteil, zu jeder Zeit. Weil Berlin eben nicht New York war oder São Paulo, sondern eine zwar ruppige, aber liebenswerte Metropole. Doch dieses Berliner Urvertrauen schwindet. Plötzlich hört man aus dem Freundeskreis, man habe nachts ein mulmiges Gefühl beim S-Bahn-Fahren. Gehe ungern nach 22 Uhr in die U-Bahn. Drehe sich auf dem Gehweg jetzt öfter um. Denn da draußen lungern Heranwachsende herum, die einen Totschlag in Kauf nehmen, um an Wertsachen zu kommen - Geld, Handys, Taschen. Für die nur noch sie selbst und ihre Kumpels zählen, alle anderen sind Opfer. Ist das noch meine Stadt, oder gehört sie, wenn es dunkel wird, denen, die mit Messer und Totschläger losziehen? Vom Senat, vom zuständigen Innensenator oder gar vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit fällt dazu kaum ein Wort. Dabei sollten die Politiker dieser Stadt dringend Alarm schlagen und handeln. Aber nein, lieber sonnt man sich im Licht guter Zahlen - Berlin verzeichnete im letzten Jahr mehr als 20 Millionen Übernachtungen. Besucherrekord. Tourismus als Jobmotor. Berlins Politiker sollten sich nichts vormachen - der Tourismus boomt auch wegen des guten Rufs: Hier könne man sich als Tourist sicher bewegen. Letzte Woche wurde ein 17-jähriger Tourist auf der Landsberger Allee brutal zusammengeschlagen und ausgeraubt. Die Täter? Jung und männlich. Sobald der erste renommierte Reiseführer eine Berlin-Warnung ausgibt, kann der Besucher-Boom ganz schnell vorbei sein. Vielleicht holt ja dieser Gedanke die Politiker aus ihrer Lethargie, wenn es die Sorge um die Bürger nicht schafft.
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