"Berliner Morgenpost": Riskante Attacken
Leitartikel von Michael Backfisch zu ukrainische Drohnenangriffe auf Russland
Berlin (ots)
Fast täglich greifen ukrainische Drohnen Ziele auf russischem Territorium an. Oft werden Gebäude im Moskauer Wolkenkratzerviertel Moskwa City attackiert. Dabei kommt es zu Sachschäden wie zerbrochenen Fensterscheiben oder rußgeschwärzten Fassaden. Diese Vorstöße scheinen Akte der Verzweiflung zu sein, denn strategisch sinnvoll sind sie nicht.
Es mag im Kalkül der Ukrainer liegen, den Krieg auf das Gebiet des Aggressors zu bringen und die Russen zu verunsichern. Doch dieses Ziel wird nicht erreicht: In Zeiten der militärischen Konfrontation scharen sich die Menschen um den Anführer, so brutal er in Gestalt von Wladimir Putin auch sein mag. Deshalb sind diese Drohnenangriffe kontraproduktiv. Fragwürdig wird es, wenn Drohnenattacken zu zivilen Todesopfern führen, wie sie in der russischen Grenzregion Belgorod gemeldet wurden. Sollten ukrainische Kräfte russische Zivilisten töten, würden sie die moralische Begründung für ihre Verteidigungsanstrengungen schwächen. Russland, das den barbarischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland vom Zaun gebrochen hat, stünde nicht mehr isoliert am Pranger.
Nach dem Völkerrecht ist es für ein angegriffenes Land wie die Ukraine legitim, militärische Ziele auf dem Territorium des Aggressors zu attackieren, von wo es unter Beschuss gerät. Aber sobald Zivilisten getötet werden, betritt die Ukraine eine gefährliche Grauzone. Russland kann dann eine Täter-Opfer-Umkehr konstruieren. Narrativ: Die Ukraine tötet unschuldige Menschen. Darüber hinaus würde das an der Unterstützung der Bevölkerung im Westen nagen. Mit ihren Drohnenangriffen auf Russland bewegt sich Kiew auf einem sehr schmalen Grat.
Der strategische Hintergrund für die Drohnenattacken ist vermutlich die stockende Gegenoffensive der Ukrainer. Anderthalb Jahre nach Beginn der russischen Invasion gibt es kaum Bewegung an den Frontlinien. Nach der Befreiung der Stadt Cherson im Juli 2022 und der Region Charkiw im darauffolgenden September war die Hoffnung groß, dass die ukrainische Armee zeitnah einen Durchbruch erzielt. Auch der Westen setzte auf einen schnellen Vorstoß. Dahinter steckt ein falsches Erwartungsmanagement, für das es Gründe gibt. Die Kampf- und Schützenpanzer sowie die Flugabwehr aus dem Westen kamen vergleichsweise spät. Die Russen hatten dadurch Zeit, sich in mehreren Verteidigungslinien einzugraben und das Gelände zu verminen.
Möglicherweise hat die Stagnation an der Front aber auch etwas mit der Militärstrategie der Ukrainer zu tun. US-Regierungsbeamte und westliche Geheimdienstler kritisieren, dass sich die Ukrainer verzetteln. Ihr Vorwurf: Anstatt alle Kräfte auf einen Durchbruch an der Südfront zu konzentrieren, kämpfen sie in gleichen Teilen im Süden und im Osten.
Westliche Militärexperten sind sich einig: Das überragende Ziel der Ukrainer muss sein, einen Keil in die russische Südfront zu treiben. Damit würden Nachschubwege unterbrochen, die Krim wäre für Putins Truppen kaum noch zu halten. Ein solches Momentum würde den Kremlchef unter Druck setzen, an den Verhandlungstisch zu kommen.
Putin spielt auf Zeit. Sein Traum: Im Weißen Haus sitzt ab Januar 2025 Donald Trump oder ein anderer Republikaner, der nicht mehr viel Energie in die Ukraine stecken will. Parallel dazu baut er auf die zunehmende Kriegsmüdigkeit im Westen. Die Ukraine braucht daher maximalen Fokus in der Schlacht und die Aussicht auf militärische Erfolge.
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