Berliner Morgenpost: Kommentar
Berlin (ots)
Jeder dritte West-Deutsche hält die Ost-Deutschen für undankbar, 31 Prozent der Ost-Deutschen halten die bisherigen Finanzhilfen für die neuen Länder (in die flossen für den Aufbau Ost bisher 1250 Milliarden Euro) für zu niedrig, 24 Prozent der West-Deutschen und 12 Prozent der Ost-Deutschen wollen die Mauer wieder haben. Zahlen aus jüngsten Meinungsumfragen zur Befindlichkeit der Deutschen knapp 14 Jahre nach dem historisch einmaligen Ereignis der Wiedervereinigung. Droht Deutschland eine neue Spaltung, diesmal ohne Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl, aber eine Trennung der milderen Art, gespeist aus Neid, Unverständnis und Bequemlichkeit? Haben die Deutschen doch nichts aus der Geschichte gelernt, sind sie ein undankbares Volk? Nimmt man allein die Umfragen zum Maßstab, die ja immer nur Momentaufnahmen, Stimmungen des Augenblicks sind, könnte man zu dieser bitteren Einsicht kommen. Wer sich jedoch im Westen wie im Osten des Landes ein bisschen genauer umschaut, der weiß sich vor Fehlinterpretationen zu hüten. Dass Deutschland nicht nur in einer Wirtschaftskrise, auch in einer höchst bedenklichen Sinnkrise steckt, ist längst offenkundig. Und dass die Menschen in der alten Bundesrepublik davon bisher nicht ganz so schwer getroffen sind wie die in der ehemaligen DDR, wird auch von niemandem ernsthaft bestritten. Verteilungskonflikte zwischen West und Ost sind da fast zwangsläufig. Zumal es Krisenregionen nicht nur im Osten, sondern auch im Westen gibt und blühende Landschaften längst auch dort, wo einst der Sozialismus alles ruinierte. Das drückt auf die Stimmung hier wie dort, weckt Neidgefühle vor allem bei denen, die im Westen ein wenig zurückstecken und im Osten mit weniger als erwartet auskommen müssen. Nicht erst seit gestern ist Ernüchterung eingekehrt in den Einigungsprozess, trifft die Realität die Menschen im Positiven wie im Negativen. Meinungsumfragen spiegeln Stimmungen wider, bieten den Befragten Gelegenheit, ihren momentanen Frust loszuwerden. Aber deshalb will kein Ost-Deutscher zurück in alte Zeiten, sich von einer Partei gängeln lassen, jahrelang auf einen Trabi warten oder von Mallorca als einer unerreichbaren Insel nur träumen. Und im Westen will wirklich ernsthaft keiner wieder Schlagbäume an der Elbe errichten und ein Visum für Dresden oder Usedom beantragen. Meinungsumfragen geben Stimmungen, keine letzte Entscheidungen der Befragten wieder. Dass die momentane Stimmung noch schlechter ist als die wirkliche Lage, gehört leider auch zu den Realitäten unserer Tage.
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