Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt
Gängige Putenhaltung ist tierschutzwidrig
Berlin (ots)
Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim hat im Rahmen seiner Urteilsbegründung zur sogenannten Putenklage die gängige Haltungspraxis in der Putenmast als tierschutzwidrig eingestuft. Das Gericht schließt sich damit zu einem gewichtigen Teil der Ansicht des Menschen für Tierrechte Baden-Württemberg e. V. und der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt an, die zu dieser Frage aktiv geworden sind. Das Urteil bezieht sich zwar auf den konkreten Fall eines Putenmastbetriebs im Kreis Schwäbisch Hall, hat aber Präzedenzcharakter für die gesamte Branche.
Erfolg gegen die Putenmastbranche
Der fragliche Putenmastbetrieb hält die Tiere entsprechend der freiwilligen Haltungsvorgaben der Putenmastbranche. Das zuständige Veterinäramt stufte sie daher als "gute Putenhaltung" ein. Menschen für Tierrechte klagte dagegen mit Unterstützung durch die Albert Schweitzer Stiftung, da sie der Ansicht sind, dass die Haltung bei den Tieren zu Schmerzen und Leiden führt und daher nicht mit dem Tierschutzgesetz vereinbar ist - diese Einschätzung teilt das Gericht.
In der vorliegenden Begründung heißt es: "Das [...] praktizierte Haltungssystem, in dem Puten in Herden mit mehreren tausend Tieren sowie in Ställen gehalten werden, die nahezu keinerlei Strukturierungselemente und Rückzugsmöglichkeiten aufweisen und den Tieren das - insbesondere nächtliche - 'Aufbaumen' nicht ermöglichen [...], ist mit den Vorgaben des § 2 Nr. 1 Var. 3 TierSchG nicht vereinbar. In einem solchen Haltungssystem ist ein artgemäßes und bedürfnisentsprechendes Ruhe- und Sozialverhalten der Tiere nicht gewährleistet [...], womit eine unangemessene Beeinträchtigung ihrer Grundbedürfnisse einhergeht [...]."
Das Gericht machte zudem unmissverständlich klar, dass die Haltungsvorgaben der Industrie - die "Bundeseinheitlichen Eckwerte für eine freiwillige Vereinbarung zur Haltung von Mastputen" - als Maßstab für eine art- und bedürfnisgerechte Ernährung, Pflege und Unterbringung der Tiere völlig ungeeignet sind. "Eine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit artspezifischen Bedürfnissen von Puten lässt sich der Ausarbeitung ebenso wenig entnehmen wie substantielle Begründungen für die abgegebenen Empfehlungen und Bewertungen", so die Einschätzung des Gerichts. Die Branche wird sich zukünftig nicht mehr auf diese Eckwerte beziehen können, wenn sie von "Tierwohl" spricht.
Kannibalismus, Schmerzen und gesundheitliche Probleme sind Fakt
Insbesondere folgende Probleme in der gängigen Putenmast sind für das Gericht unstrittige Tatsachen:
- Beschäftigungs- und Bewegungsmangel führen dazu, dass natürliches Futtersuch- und Erkundungsverhalten in aggressives Beschädigungspicken bis hin zum Kannibalismus fehlgeleitet wird. Deshalb werden den Tieren prophylaktisch die mit Nerven durchzogenen Schnabelspitzen gekürzt.
- Vor allem die Haltung auf feuchter Einstreu führt zu schmerzhaften Fußballenveränderungen (Entzündungen, Geschwüre, Schwellungen) bei den Tieren.
- Nässe, Verschmutzung, feuchte Einstreu und Kot führen zur Verschmutzung des Gefieders. Dadurch wird die Schutzfunktion des Gefieders (insbesondere Warmhalten, Schutz vor Schmutz, Feuchtigkeit, Infektionen und Verletzungen) beeinträchtigt, was sich negativ auf das Wohlbefinden der Tiere auswirkt.
- Schmerzhafte Fußballenveränderungen, das hohe Körpergewicht der Tiere, Erkrankungen des Bewegungsapparats und hohe Temperaturen im Sommer führen dazu, dass die Tiere vermehrt liegen. Dadurch entstehen Druckstellen, entzündliche Veränderungen bis hin zu Hautgeschwüren an der Brust. Je verschmutzter und nasser die Einstreu und je federloser die Brust, desto gravierender sind die Folgen.
Fazit: Haltung muss ungeachtet wirtschaftlicher Interessen angepasst werden
Das Gericht hat in seinem Urteil das zuständige Veterinäramt verpflichtet, die Putenhaltung in dem fraglichen Betrieb neu zu bewerten und Verbesserungen der Haltung anzuordnen. Dabei muss das Amt die Urteilsbegründung des VGH berücksichtigen. Mögliche Maßnahmen, die das Gericht nennt, sind die deutliche Reduzierung der Besatzdichte und der Herdengröße, Maßnahmen zur Strukturierung des Stalles, Anreicherung an Beschäftigungsmöglichkeiten, Schaffung von Aufbaummöglichkeiten und nähere Maßgaben zur Art der Einstreu und diesbezüglichen Erneuerungsintervallen. Ob das die Wirtschaftlichkeit der Putenmast beeinflusst, ist dabei laut Gericht nicht entscheidend. Damit hat das Gericht das Wohlergehen der Tiere über die wirtschaftlichen Interessen des Putenhalters gestellt.
Enttäuschend: Schnabelkürzen für Puten nicht infrage gestellt
In Bezug auf das Schmerzen verursachende Schnabelkürzen, das Verletzungen durch Picken sowie Kannibalismus verringern soll, sieht das Gericht allein die Brüterei als Verantwortliche. Diese nehme das Kürzen der Schnäbel bei den Putenküken vor und habe dafür eine Erlaubnis. Der Mastbetrieb könne dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Diese und andere Einschätzungen des Gerichts zu weiteren wichtigen Grundsatzfragen teilen die Tierschutzorganisationen nicht. In Bezug auf das Schnabelkürzen verkennt das Gericht zum Beispiel, dass die Ausnahme vom Amputationsverbot nur greifen soll, wenn der Eingriff tatsächlich unerlässlich ist, nicht also, wenn die Haltung der Tiere verbessert werden könnte - so wie es das Gericht für den fraglichen Betrieb bescheinigt hat. Zudem wurde übersehen, dass nicht die Brüterei sondern der spätere Putenhalter plausible Unterlagen über die Unerlässlichkeit der Amputation beibringen muss, damit die Brüterei eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot überhaupt beantragen kann.
Über die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt
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