Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Zustimmung zu linken Positionen Am Volk vorbei regiert - Leitartikel von Angela Gareis
Essen (ots)
Bald drohen Streiks auch im öffentlichen Dienst, und Oskar Lafontaine träumt vermutlich etwas energischer von seinem Projekt "Generalstreik". Immerhin kann er einen frohen Blick in die Ergebnisse der Umfrage versenken, die Emnid im Auftrag der "Zeit" durchgeführt hat. 72 Prozent der Befragten finden, dass die Regierung nicht genug für soziale Gerechtigkeit tue. 68 Prozent der FDP-Wähler befürworten den Mindestlohn. 80 Prozent der Unionswähler lehnen die Rente mit 67 ab. Emnid ermittelte parteiübergreifende Mehrheiten für einen stärkeren Staat und die Korrektur von Reformen sowie gegen weitere Privatisierungen und den Einsatz in Afghanistan.
Das sind ungeahnt hohe Zustimmungswerte für Positionen der Linken. Zwar wird die Linke diese Werte genauso wenig in Wahlergebnisse umwandeln können, wie sie das Recht auf Generalstreik durchzusetzen vermag. Aber für die anderen Parteien stellen sich höchst unbequeme Fragen. Können sie überhaupt noch die Anliegen ihrer Anhänger vertreten? Kennen Unionspolitiker, die das konservative Profil ihrer Partei schärfen wollen, ihre Möglichkeiten, wenn nur 11 Prozent der Bürger sich rechts verorten, 52 Prozent in der Mitte und 34 Prozent links davon? Nutzen Sozialdemokraten ihre Möglichkeiten, wenn sie in Umfragen unter 30 Prozent dümpeln?
Umfragen sind stets Momentaufnahmen, und aktuell entspringt die Sehnsucht nach staatlicher Geborgenheit zu einem großen Teil der Erkenntnis, dass vom wirtschaftlichen Aufschwung bei weitem nicht alle profitieren, was stärker die Risiken als die Chancen der Globalisierung vor Augen führt. Aber die Kluft zwischen den Meinungen der Wähler und dem Regierungshandeln "ihrer" Volksparteien spricht auch für eine vollkommen gestörte Kommunikation, die zum Teil aus dem letzten Wahlkampf resultiert. Die Union kämpfte mit neoliberalen Thesen und verblüffte die Republik mit staatlicher Kinderbetreuung. Die SPD gab sich betont sozial und überraschte mit der Unternehmenssteuerreform.
Solche unerklärten Kursschwankungen erschweren die Orientierung und Bindung an eine Partei. Das spiegelt sich nicht allein in den Austritten von Mitgliedern beider Volksparteien, sondern auch in dem Umstand, dass gerade die Politiker Sympathien genießen, die nicht als klassische Parteiprofis wahrgenommen werden: Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen. Und der Linkspopulist Lafontaine, der gegen alle etablierten Parteien aufbegehrt, könnte von der Generalverdrossenheit profitieren.
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