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WAZ: 60 Jahre im Kennzeichen D - Der Glückwunsch geht an uns alle - Leitartikel von Ulrich Reitz

Essen (ots)

Kürzlich in Köln, da fragte eine Studentin Helmut
Schmidt, wie es denn mit unserem Kapitalismus wohl weitergehe. Er 
verstehe die Frage nicht, antwortete der sozialdemokratische 
Ex-Kanzler. Deutschland sei kein kapitalistisches System, sondern, 
weil 25 Prozent der Menschen von öffentlichem Geld lebten, ein 
Wohlfahrtsstaat. Und dies, Wohlfahrtsstaat zu sein, sei die größte 
Errungenschaft in 60 Jahren nachkriegsdeutscher Geschichte.
Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, heute so respektiert wie kaum je 
als Kanzler, muss es wissen. Deutschlands Geschichte lässt sich 
wechselweise lesen als eine der Emanzipation (von Frauen und früher 
bedrängten Minderheiten wie Homosexuellen), eine der Sicherheit 
(unserer eigenen und der der anderen, die wir nicht mehr bedrohen), 
eine des Aufstiegs (unseres Ansehens als Land wie ganz einfach 
materiell): Und immer sind es gute Entwicklungen, die sich mit diesen
Jahren verbinden lassen.
Das darf man ja wohl zu diesem Anlass einmal sagen, auch jenen, 
die ihre Existenz längst aus der besserwisserischen Nörgelei 
definieren (wie Günter Grass) und auch damit ganz gut durchs 
bundesrepublikanische Leben kommen.
Neuerdings ist wieder viel die Rede vom Rheinischen Kapitalismus.
Abgesehen davon, dass hier ein Modell verklärt wird, das so idyllisch
nicht war, wie die Rückschau heute nahelegt: Ein Gemeinwesen, das 
sich selbst zuvor zivilisatorisch entleibt hat, kann 
unverkrampft-gelassen stolz darauf sein, danach ein vorzeigbares, 
auch international vorbildliches Modell hervorgebracht zu haben.
Natürlich verlief diese Geschichte nicht in einer geraden Linie, 
es gab Brüche, auch Ausbrüche (wie die terroristische RAF), Konflikte
- wie sollte es auch anders sein in einer offenen Gesellschaft, in 
der das Morgen immer wieder neu und meistens unvorhersehbar aus der 
Auseinandersetzung über das Heute entsteht. Darin, in der Offenheit 
und allem, was damit verbunden werden muss, wie das grundsätzliche 
Freiheitsrecht jedes Menschen, steckt, was uns unterscheidet: von 
jenen, die neue Menschen erfinden wollen oder ganze Systeme über den 
freien Einzelnen stellen.
Alles in allem ist es gut gelaufen. Die DDR wollte nach Westen 
und wusste nur zu genau, warum. Dieser außerordentliche 
System-Bankrott lässt sich nicht aufrechnen gegen Polikliniken. In 
einer Welt so voller schlechter Nachrichten ist die vom Geburtstag 
der Bundesrepublik eine gute.

Pressekontakt:

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Telefon: 0201 / 804-2727
zentralredaktion@waz.de

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