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WAZ: Zur Lage der Europäischen Union - Neuanfang ohne Zauber - Leitartikel von Knut Pries

Essen (ots)

Ende Mai hatte die Bundeskanzlerin der europäischen
Politik eine ganz neue Marschrichtung gewiesen. "Ein 
Paradigmenwechsel", sagen ihre Mitarbeiter. Leider hat es keiner 
gemerkt. Denn Angela Merkel vergurkte ihre Grundsatzrede an der 
Berliner Humboldt-Universität. Die Botschaft kam nicht über die 
Rampe. Die Absicht besteht indes weiter. Wie die Kanzlerin jetzt in 
Brüssel sagte: In den nächsten fünf Jahren gehe es darum, der EU in 
der Welt endlich mehr Gehör zu verschaffen.
Seit einem Jahrzehnt bastelt die EU an den Voraussetzungen für 
eine global ernst zu nehmende "Stimme Europas". Seit einem Jahrzehnt 
steckt sie in einer Organisationskrise. Nizza-Vertrag - missraten; 
Verfassung - gescheitert in Frankreich und Holland; Lissabon-Vertrag 
- durchgefallen in Irland. Jetzt endlich ist das Ziel in Sicht.
Zwar liegt bis zum Inkrafttreten noch viel politisches 
Buckelpflaster vor uns. Aber die Aussichten stehen gut, dass im 
Oktober die neuerliche Volksabstimmung in Irland glückt und der 
Karren damit endlich durchs Ziel rumpelt. Wenn alles klappt, tritt 
parallel eine neue Brüsseler Kommission ihr Amt an, hat sich das neue
EU-Parlament einigermaßen sortiert. Die EU bekommt also durch 
terminliche Fügung die Chance, Schwung für einen echten Neustart 
mitzunehmen.
Dass die ewige Beschäftigung mit sich selbst zum Ansehensverfall 
des europäischen Einigungswerks beigetragen hat, ist keine neue 
Erkenntnis. Sie stand schon hinter der Parole "Europa muss dem Bürger
nutzen", die nach dem Verfassungsdesaster 2005 ausgegeben wurde. Nun,
im Zeichen der Krise und globaler Aufgaben, soll es um die Sicherung 
eines Wohlstands- und Sozialmodells gehen. Das droht international 
ins Hintertreffen zu geraten, wenn es nur von krakeelenden Klein- und
Mittelstaaten verteidigt wird, die unfähig sind, gemeinsame 
Interessen zu vertreten. Statt "Nutzwert-Europa" also 
"Schutzwert-Europa". Der Charme der Idee liegt darin, dass sich 
Merkel und Frankreichs Präsident Sarkozy in dem Ziel einig sind.
Dort liegt freilich auch das Risiko: Den tollen Paradigmenwechsel
sollen dieselben hinlegen, die uns mit ihrem bisherigen Gewurstel 
gequält haben: ein übersteuerter französischer Präsident, eine 
untersteuerte Bundeskanzlerin, der von beiden wieder bestellte, 
umstrittene Kommissionschef Barroso, exzentrische Nationalpotentaten 
Marke Berlusconi. Jedem Anfang, sagt der Dichter, wohnt ein Zauber 
inne. Diesem nicht.

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Zentralredaktion
Telefon: 0201 / 804-6528
zentralredaktion@waz.de

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