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WAZ: Vor dem Bundesparteitag - Wohin treibt die SPD? - Leitartikel von Frank Stenglein

Essen (ots)

Nüchtern betrachtet hat die SPD schon Härteres
überstanden als Abstürze bei Wahlen und Umfragen. Im Bismarck-Reich 
war die Partei über Jahre verboten, im Nationalsozialismus härtesten 
Verfolgungen ausgesetzt, die für Funktionäre und Mitglieder 
unmittelbar Lebensgefahr bedeuteten. Doch ihrer inneren 
Selbstgewissheit, dem Glauben an die eigene Mission und an den 
"unaufhaltsamen" sozialen Fortschritt konnten solche Katastrophen 
wenig anhaben, im Gegenteil: Die SPD ging gestärkt daraus hervor. 
Weit gefährlicher ist für eine Partei letztlich der schleichende 
Verlust der Identität. So gesehen steckt die SPD am Vorabend ihres 
Parteitags in der wohl größten Krise ihrer 146-jährigen Geschichte.
Wie konnte es dazu kommen? Die SPD hat in der Mitte ihrer 
insgesamt elfjährigen Regierungszeit dem Sozialstaat Reformen 
abgerungen, die bei aller Detail-Kritik nötig waren. Nur die 
Sozialdemokratie besaß dafür den moralischen Kredit, eine 
CDU-geführte Regierung, die das gleiche versucht hätte, wäre wohl vor
dem gesellschaftlichen Proteststurm in die Knie gegangen. Viele 
Sozialdemokraten wussten oder ahnten zwar um die Verstörung der 
eigenen Leute, doch kann die SPD, wenn sie einmal von etwas überzeugt
ist, sehr konsequent sein.
Der Preis, der für diesen Dienst am Gemeinwesen gezahlt werden 
muss, ist hoch. Die SPD steckt im Schraubstock zwischen einer 
populistischen Linkspartei und einer CDU, die sich durchgreifend 
sozialdemokratisiert hat. Es ist tragisch: Das sozialdemokratische 
Denken feiert in Europa Triumphe und erfasst zögernd - in Gestalt 
einer Krankenkasse für alle - sogar Obamas USA. Die Partei aber, die 
von diesem Wandel am wenigsten profitiert, ist die SPD.
Die Frage aller Fragen ist: Wie lässt sich verloren gegangene 
Identität ohne inhaltliche Verrenkungen neu aufbauen? Die SPD-Spitze 
kann ja beispielsweise schlecht sagen "Die Rente mit 67 war falsch", 
während sie die Reform in Wahrheit für richtig hält, da die 
Demographie nun einmal ist wie sie ist. Mit einer vernunftwidrigen 
Ideologisierung um jeden Preis, die gerade jetzt verführerisch ist, 
könnte man zwar links einiges zurückholen, würde jedoch die Partei 
der Mitte der Gesellschaft entfremden. Die Macht der CDU wäre für 
lange Zeit zementiert.
Was also tun? Die redliche Antwort lautet: Es gibt keine echte 
Lösung aus dem strategischen Dilemma. Die SPD kann sich tastend nach 
Links bewegen, auf allen Ebenen neues Vertrauen aufbauen - und auf 
bessere Zeiten hoffen. Das ist alles.

Pressekontakt:

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Zentralredaktion
Telefon: 0201 / 804-6528
zentralredaktion@waz.de

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