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WAZ: Mauer, Morde, Kalter Frieden. Leitartikel von Dietmar Seher

Essen (ots)

Das Lied der DDR-Grenztruppen ist zynisch. Und es enthält eine bedeutende Falschaussage. Vom bevorstehenden Mauerbau haben 1961 viele gewusst. Im Westen haben ihn die Geheimdienste bis auf die Woche vorausgesagt, nahmen ihn Regierungen bewusst hin. Eine Mauer sei letztlich besser als der Atomkrieg, hat John F. Kennedy aufgeatmet. Ihr Bau signalisierte: Jede der bis zum Overkill hochgerüsteten Weltmächte darf auf ihrer Seite machen, was sie will. Sie darf nur nicht der anderen in die Quere kommen.

Es war die stille Übereinkunft zwischen Washington und Moskau, die im Kalten Krieg den Menschen ein Überleben sicherte. Die Westmächte griffen folgerichtig nicht ein. Ganz besonders die Berliner mussten mit der Teilung 28 lange Jahre einen hohen Preis für diesen Kalten Frieden zahlen. Dies ist der eine Teil der Wahrheit um die Mauer.

Der andere: Nichts rechtfertigt die Mittel des Mordes und des Terrors, mit denen die SED-Diktatur, besorgt um ihren maroden "Sozialismus", den menschenfeindlichen Wall verteidigt hat. Nach Peter Fechter, der eineinhalb Stunden im Todesstreifen verblutete, starben noch Hunderte im Kugelhagel. 70 000 Flüchtlinge büßten ihre Freiheitsliebe in den Stasi-Gefängnissen.

Wenig davon wurde nach der wiedergewonnenen Einheit juristisch aufgearbeitet. Zu Ermittlungen gegen die Todesschützen oder ihre Befehlsgeber kam es selten - und wenn, endeten sie noch seltener mit einem angemessenen Urteil. Täter und Opfer der Mauer begegnen sich heute offen auf der Straße. Letztere fühlen sich doppelt gestraft.

Die tödliche Grenze ist längst gefallen. Es ist also Zeit, über solche Versäumnisse des Rechtsstaats zu sprechen. Fast alle funktionierenden Demokratien neigen dazu, totalitäre Phasen der Geschichte "altersmilde" zu behandeln. Gerecht ist das nicht, und auch kein Vorbild. Wer im 21. Jahrhundert Mauern und Mord für ein Instrument der Politik hält, verdient keine Schonung.

Fazit: Die Klappe, die die Grenzer besangen, ist wieder auf. Die Demokratie darf den Sieg über totalitäre Strukturen feiern. Dass die Verbrechen an der Mauer nicht geahndet wurden, bleibt aber ein Makel.

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