Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Sigmar Gabriel, Sohn und Politiker - Kommentar von Jens Dirksen
Essen (ots)
Man hat kein gutes Gefühl, wenn Familien so streiten, dass es für alle ringsum sicht- und hörbar wird. Oder wenn Söhne in aller Öffentlichkeit mit ihren Vätern abrechnen. Als der Journalist Tilman Jens vor Jahren die Demenzerkrankung seines Vaters so schlagzeilenträchtig wie möglich ausbreitete, mag es ihm vielleicht sogar subjektiv aufrichtig um Aufklärung über die Volkskrankheit gegangen sein. Tatsächlich aber legte er damit auch Hand an das Denkmal Walter Jens. Der Fall Sigmar Gabriel scheint anders zu liegen. Was er der "Zeit" gegenüber offenbart hat, deutet auf eine traumatische Kindheit. Einen verstockten Nazi und Ausländerhasser zum Vater zu haben, ist schon schlimm genug. Aber ein Mann, der seinen Sohn dazu zwingt, seine Mutter anzulügen, um das Kind von der Mutter fernzuhalten, das klingt schon nach rücksichtsloser Seelenfolter. Man kann nur seinen Hut davor ziehen, dass Sigmar Gabriel es geschafft hat, nach einer Form von Anständigkeit zu streben, die ihm höchstens seine Mutter in die Wiege gelegt haben kann. Wenn sein Vater so wenig zum Vorbild taugte, muss er sich selbst andere gesucht haben. Er ist, nach allem, was wir über diesen aufrechten Demokraten wissen, der sein Herz mitunter auf der Zunge zu tragen scheint, nicht an die schlechtesten geraten. Doch man sieht Sigmar Gabriel eben nicht in einer Reihe mit jemandem wie der Schauspielerin Pola Kinski, die gerade offenbart hat, dass ihr Vater Klaus sie missbraucht hat. Gabriel ist Politiker. Man sieht ihn eher in einer Reihe mit jenen Kollegen, die ihr Privatestes offenbart und damit ihre Karriere beflügelt haben - nicht immer mit gutem Ausgang. Das mag Sigmar Gabriel nicht gerecht werden, aber er zählte vor wenigen Wochen noch zu den drei Kanzlerkandidatenkandidaten der SPD. Angesichts der Fettnäpfchen-Rallye von Peer Steinbrück, der so gar nichts an menschlicher Wärme verbreitet, wird nach Gabriels Schicksals-Offenbarung ein Seufzer durch seine Partei gehen. So bleibt auch hier am Ende ein ungutes Gefühl. Die leidvolle Kindheit Sigmar Gabriels berührt uns; dennoch müssen wir wohl oder übel von ihr absehen, wenn wir uns ein Urteil über den Politiker gleichen Namens bilden wollen.
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