Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: An der Schmerzgrenze - Kommentar von Miguel Sanches zu Flüchtlingen
Essen (ots)
Es ist nicht irgendeine Entscheidung. Es ist ein Warnruf an Europa, ein Signal an die Flüchtlinge, auch an die Bürger. Wir haben verstanden - sagen Kanzlerin Angela Merkel und ihr Innenminister. Deshalb führt Deutschland wieder Grenzkontrollen ein, stoppt den Zugverkehr aus Österreich und setzt das Schengener Grenzregime aus.
Wie bisher konnte es nicht weiter gehen. Von Tag zu Tag schwoll der Treck der Verzweifelten an, in den Kommunen und Ländern häuften sich die Hinweise der Überforderung, und erste Politiker - alarmierend genug - stellten das Grundrecht auf Asyl in Frage. Deutschland am Limit - Rest-Europa auf der Zuschauertribüne. So sah es aus. Falsch ist das nicht, aber nur ein Teil der Wahrheit. Es gibt in Europa eine spezielle Sicht auf Deutschland, das den Staubsauger anwarf und die Flüchtlinge anzog, um hinterher dann alle EU-Partner in Haftung zu nehmen. Da ist was dran.
Nach dieser Lesart hat Merkel mit ihrer Kurskorrektur schlicht einen Fehler wieder ausgebügelt. Die unmittelbaren Folgen jetzt kann man noch nicht so genau abschätzen. Wie schnell spricht sich die Entscheidung bis in die Lager in der Türkei und Syrien herum?
Und was macht die Entscheidung mit Europa? Europa steht für Freiheit, Toleranz, Offenheit und Solidarität - allesamt Werte, die den Bach runterzugehen drohen. Für die EU sollte die Entscheidung ein Weckruf sein, die Asylpolitik nicht nur formaljuristisch zu vergemeinschaften, sondern auch politisch ernst zu nehmen. Das Dubliner Abkommen bestand schon lange nur noch auf dem Papier.
Es werden harte Verhandlungen mit den EU-Partnern. Es droht eine Zerreißprobe. Europa sollte den Schritt Berlins richtig deuten: Ja, es ist eine Verzweiflungstat. Aber daraus wird Mut erwachsen. Die Bundesregierung wird jetzt massiver als jemals zuvor in Europa auftreten und auf eine faire und solidarische Flüchtlingspolitik pochen. Wer nach der sprichwörtlichen Chance in der Krise sucht - hier liegt sie, in dem Scherbenhaufen, der seit gestern nicht länger kaschiert wird.
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