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WAZ: Poker um Verhandlungen mit der Türkei: Feigheit vor dem Freund - Leitartikel von Tobias Blasius

Essen (ots)

Globale Macht oder Christen-Club - vor die Wahl
zwischen diesen beiden Alternativen sah der türkische Premier Tayyip
Erdogan die EU gestellt. Doch bei dem denkwürdigen Krisentreffen der
Außenminister am Montag in Luxemburg ging es um alles Mögliche, nicht
aber um die von Erdogan gefühlte Zuspitzung.
Weder das Streben nach weltpolitischer Bedeutung noch religiöse
Abschottung prägten den Politpoker über den Start von
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Als beinahe unüberwindliches
Hindernis in der Beziehungskiste zwischen Brüssel und Ankara erwies
sich vielmehr die Unfähigkeit zur Aufrichtigkeit im Umgang
miteinander. Es tobte kein abendländisch-islamischer Kulturkampf,
sondern ein Kleinkrieg um Halbsätze und Halbwahrheiten.
Österreich hat in der Türkei-Frage die Eskalation gesucht und
frühere Absprachen extrem strapaziert. Damit macht man sich
normalerweise unmöglich in einer EU, die auf Vertrauen gebaut ist.
Allerdings: Die Wiener Regierung wählte nur den falschen Zeitpunkt
und die falsche Form, um ein durchaus richtiges Anliegen auf die
Agenda zu setzen. Sie beendete einen jahrelangen Selbstbetrug der
Europäer. Sie tat es im Schutz schweigender Unterstützer und um den
Preis einer politischen Farce.
Schon länger weiß die kriselnde EU, dass sie die Aufnahme des
Riesenlandes vom Bosporus auf Sicht nicht verkraften würde. Sie weiß,
dass sie angesichts der verlorenen Verfassungsreferenden und der
ungeklärten Finanzlage nicht einmal mehr sicher sein kann, die
jüngste Erweiterungsrunde unbeschadet zu überstehen. Sie weiß, dass
der vermeintliche Sicherheitszuwachs durch „eine Brücke in den Islam”
zu spekulativ ist, um bei den Bürgern Begeisterung auszulösen. Nur
wollte es niemand den Türken so deutlich sagen. Die Feigheit vor dem
Freund machte ihr das Leben schwer. Dass es nun zur Hängepartie kam,
war nach der vertrackten türkisch-europäischen Vorgeschichte beinahe
unvermeidlich.
Das Gewürge von Luxemburg lässt für die weiteren europäisch-
türkischen Beziehungen Ungutes ahnen. Die EU muss sich entscheiden,
was sie sein will – politisch vertiefte Union oder bessere
Freihandelszone. Von dieser Entscheidung wird abhängen, ob und wann
darin Platz ist für Ankara. Die Türkei wiederum muss ihren
demokratischen Wandel unabhängig von allen EU-Ambitionen als
alternativlos anerkennen. Die Zeit der gegenseitigen Versprechungen
und Verlockungen ist jedenfalls seit Montag vorbei.

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