Mittelbayerische Zeitung: Ein Plädoyer für die "Lügenpresse"
Pressefreiheit geht jeden an, der in einer freien Gesellschaft leben will. Leitartikel von Christian Kucznierz
Regensburg (ots)
Eigentlich müsste "Lügenpresse" nicht das Unwort, sondern Wort des Jahres sein. Nicht, weil der Vorwurf etwa berechtigt wäre, dass "die Medien" in ihrer Kollektivität Lügen verbreiten würden. Nein, das tun wir nicht, alleine schon deswegen nicht, weil es "die Medien" ebenso wenig gibt wie "die Presse". Wer aber glaubt, Medien verbreiteten Lügen, glaubt auch, er sei im Besitz der eigentlichen Wahrheit. Und diesen Glauben kann es nur geben, wenn es mehr als ein Medium gibt, aus dem er sich informieren kann. Pluralität der Meinungen und der Möglichkeiten, sich zu informieren, gibt es nur in funktionierenden Demokratien. Weil es dort Pressefreiheit gibt. Wer also an eine "Lügenpresse" glaubt, erzählt zwar Blödsinn, erkennt aber an, dass er in einer freiheitlichen Gesellschaft lebt, in der seine Meinung genauso gehört wird, wie die derjenigen, die er des Lügens bezichtigt. Die Freiheit der Presse ist eben nichts Abstraktes. Im Gegenteil. Sie kann, im schlimmsten Fall, sogar tödliche Folgen haben. Als die Redaktion des französischen Satiremagazins "Charlie Hebdo" angegriffen wurde, starben dort Menschen, weil sie sich für die freie Meinungsäußerung einsetzen, für die Freiheit der Presse, auch eine Religion zu kritisieren, wenn in ihrem Namen Gewalt verübt wird. Die weltweite Solidarität und der allerorts gezeigte Slogan "Je suis Charlie" waren mehr als Ausdruck der Trauer. Zu sagen "Ich bin Charlie" heißt auch zu sagen "Ich stehe für das Recht auf freie Meinungsäußerung, für Pressefreiheit, gegen Intoleranz und Zensur." Der Ukraine-Konflikt, der Europa seit über einem Jahr in Atem hält, ist letztlich auch ein Krieg um die Wahrheiten. Es gibt massive Widersprüche in der Darstellung zwischen Ost und West, zwischen denen, die Russland wahlweise als Übeltäter oder als Sündenbock sehen. Auch unser Haus, auch die Autoren des Mittelbayerischen Verlags sind Ziel von verbalen Attacken geworden, weil unsere Berichterstattung und unsere Kommentare angeblich die Wahrheit verzerren. Aber auch hier gilt: Wer glaubt, im Besitz einer Wahrheit zu sein, die andere verschweigen, beweist einmal mehr, dass er in einer Gesellschaft lebt, die auch seine Wahrheit achtet und ihr an irgendeiner Stelle eine Plattform bietet. Denn auch das ist Presse- und Meinungsfreiheit in einer digitalisierten Welt: die Tatsache, dass Medienhäuser nicht mehr alleiniger Torwächter von Informationen sind. Jeder kann heute Blogs und Foren starten und dort seine Meinungen und Informationen verbreiten. Jeder kann auf diese Veröffentlichungen im Netz zugreifen. Ob er dort umfassend, ausgewogen und fundiert informiert wird oder sich in einer Echokammer seiner eigenen Vorstellungen von der Wahrheit wiederfindet, muss er selbst entscheiden. Aber er kann es zumindest. Der Tag der Pressefreiheit am 3. Mai ist vielleicht nicht mehr als ein weiterer dieser Thementage, von denen meist nur die Betroffenen wissen. Das Besondere ist, dass dieses spezielle Thema alle angeht. Weil es für das Funktionieren von Demokratie essenziell ist, dass Whistleblower aufdecken, zu was Geheimdienste imstande sind, dass Redaktionen recherchieren, wer wo wann von wem etwas wusste und es nicht zugab, obwohl er gefragt wurde. Es ist wichtig, dass Blogger auch den Medien selbst auf die Finger schauen und kritisieren, wenn Fehler gemacht wurden. Es ist notwendig, dass Redakteure das veröffentlichen, was der Bürgermeister, Stadtrat oder Bundestagsabgeordnete nicht in der Öffentlichkeit wiederfinden wollen. Wer also von einer "Lügenpresse" sprechen möchte, der soll das tun. Er sollte sich überlegen, wie eine Welt ohne freie Meinung, ohne freie Presse, ohne Pluralität aussieht. Das ist gerade einmal 70 Jahre her. Und 26 Jahre.
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