Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Maaßen: Schleichendes Gift von Christian Kucznierz
Regensburg (ots)
Es hat ein paar Stunden gedauert, bis verschiedene Redaktionen das umstrittene Video, das einen Übergriff auf einen Migranten zeigt, verifizierten. Wetter, Szenerie, Umfeld, das alles deutete klar auf Chemnitz am Tag der Demonstration von Rechtsextremen hin. Es ist eine Szene, die sich nirgendwo abspielen darf, vor allem nicht in Deutschland; sie zeigt eine rassistisch motivierte Tat, Hass und Gewalt gegen eine Minderheit auf offener Straße. Die Debatte darüber, welcher Begriff dafür zu verwenden ist, ist aber nicht eine rein semantische. Es geht sehr wohl darum, welche Worte wir verwenden, um Dinge zu benennen. Denn, wie in diesen Tagen deutlich wird: Unklarheiten, das vorschnelle Verbreiten von Gerüchten, die Entrüstung ohne die Kenntnis der Fakten oder das bewusste Verdrehen von Tatsachen treiben einen Keil in unsere Gesellschaft. Sie untergraben den Zusammenhalt. Sie unterminieren den grundlegenden Glauben daran, dass es Institutionen gibt, denen man vertrauen kann. Sie sind ein schleichendes Gift. Hans-Georg Maaßen mag vielleicht wirklich einen berechtigten Zweifel gehegt haben, ob in der öffentlichen Debatte um die Vorfälle in Chemnitz nicht zumindest in Teilen vorschnell geurteilt wurde. Denn es stimmt ja: Es waren voreilige Behauptungen über die Hintergründe des tödlichen Vorfalls in der Stadt, die sich über die Netzwerke verbreiteten und Hooligans und Neonazis auf die Straße brachten. Die Frage aber, die Maaßen bislang nicht beantwortet hat, ist, wie er die Echtheit anzweifeln konnte, wenn es technisch heute selbst Nicht-Geheimdienstlern möglich ist, Fotos und Videos zu verifizieren. Dass Maaßen nun offenbar zurückrudert und angibt, nur gesagt haben zu wollen, dass das Video keinen Beleg für Hetzjagden liefere, ist eine faule Ausrede. Aber auch hier gilt: Ob er das gesagt hat, wissen bislang nur einige Mitglieder des Innenministeriums und der Bundesregierung - und offenbar einige Journalisten, die Maaßens Bericht in den Händen halten. Maaßen ist aber mutmaßlich nur das jüngste Beispiel für ein Vorgehen, das sich in unserer Gesellschaft verfestigt: das vorschnelle und oft reflexartige Reagieren auf Nachrichten, ohne deren Wahrheitsgehalt geprüft oder gar angezweifelt zu haben. Wir mögen in einer postfaktischen Welt leben, in der die Wahrheit immer nur eine Annäherung ist, eine mögliche Betrachtung der Realität. Und es mag wahr sein, dass es absolute Wahrheiten nur in Diktaturen gibt, weil dort Sichtweise auf Dinge vorgegeben wird. Aber wir wissen spätestens seit Donald Trump um die Macht der bewussten Verdrehung von Tatsachen und das Ausblenden von Grautönen in der öffentlichen Diskussion. Die Debatte etwa um Hetzjagden in Chemnitz verstellt den Blick darauf, dass es Übergriffe gab: auf Ausländer, auf Journalisten, auf Polizisten. Es gibt Anzeigen, es gibt Videos, die nicht angezweifelt werden. Die Tatsache, dass früh von Hetzjagden gesprochen und geschrieben wurde, hat aber Mitschuld daran, dass die Taten von Chemnitz in den Hintergrund getreten sind, zumindest eine Zeit lang. Wer nicht klar benennt, was passiert und was nicht passiert ist, erzeugt eine Unschärfe, in der Wahrheit verschwinden kann. Er gibt den Rechtsextremen in Chemnitz die Chance, ihre Taten zu relativieren. Er liefert eine Steilvorlage für Fake-News- und Lügenpresse-Vorwürfe. Und er liefert den Feinden der Demokratie einen Vorwand, demokratische Institutionen als unglaubwürdig darzustellen. Wenn diese Institution dem Schutz der Verfassung dient und das Misstrauen durch seinen Leiter oder dessen Verhalten gesät wird, muss er gehen. Wenn wir alle aber bereitwillig immer öfter durch laute, vorschnelle Reaktionen Gerüchte zu Wahrheiten machen oder umgekehrt, entfaltet das schleichende Gift seine Wirkung.
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