Mittelbayerische Zeitung: Großbaustelle Europa. Bei den Europawahlen im nächsten Jahr wird sich zeigen, ob Pro-Europäer oder Nationalisten künftig die Richtung bestimmen. von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Der eher nachdenkliche Spitzenkandidat der europäischen Konservativen, Manfred Weber, hat zweifellos Recht, wenn er der Europawahl im Mai nächsten Jahres das Etikett "historisch" verleiht. Über sechs Jahrzehnte nachdem in Rom eine prosperierende Staatengemeinschaft auf dem alten Kontinent begründet wurde, steht die EU heute am Scheideweg: Entweder bestimmen künftig die Pro-Europäer oder die Nationalisten die Richtung. Die Union der - noch - 28 Staaten war auch als eine bittere Lehre aus einer brutalen, kriegerischen Geschichte des Kontinents im 20. Jahrhunderts gebildet und ausgebaut worden. Und Europa bleibt eine Großbaustelle, denn nun schwächelt und kriselt die Union erkennbar. Mit dem Brexit will erstmals eine Nation den illustren Club verlassen, was zu heftigen Selbstzweifeln und Erschütterungen führt. In Großbritannien selbst, aber auch im Rest der Europäischen Union. Die "Brexitiers" von der Insel haben in Kontinental-Europa Gleichgesinnte, Europagegner gefunden, die zwar den Nationalstaat, das eigene Vaterland betonen, doch in Wirklichkeit Nationalismus meinen. Im Kern ist dies eine Rückkehr in eine Vergangenheit, in der nicht der multilaterale, europäische Gedanke und gemeinsame Werte die Politik bestimmten, sondern das - zumindest so verstandene - eigene nationale Interesse. Wenn man so will, gibt es eine Linie, die eine Marine Le Pen in Frankreich, einen Geert Wilders in den Niederlanden oder - nicht ganz so extrem - einen Viktor Orban in Ungarn, einen Matteo Salvini in Italien oder einen Lech Kaczynski in Polen verbindet. Dabei steht der Verlust an Ansehen und Glaubwürdigkeit, den die EU erleiden musste, im krassen Gegensatz zu ihrer wirtschaftlichen Kraft. Vor allem Deutschland profitiert vom gemeinsamen Binnenmarkt, vom zollschrankenlosen Handel von Portugal bis Schweden. Von der Wirtschaftskraft her ist die Gemeinschaft mit ihren rund 500 Millionen Menschen ein Riese, der es mit globalen Wettbewerbern wie den USA oder China aufnehmen kann. Politisch jedoch ist die Union ein Zwerg, der sich noch dazu oft selbst lähmt. Dass sich die reichlich behäbig gewordene EU rasch reformieren, schlagkräftiger, innovativer, wettbewerbsfähiger und vor allem bürgernäher werden muss, ist allen klar, die eine Zukunft der Union wollen. Freilich sind die konkreten Wege dahin höchst umstritten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte bereits kurz nach der Bundestagswahl 2017 weitreichende Vorschläge gemacht, von denen man nicht alle gut heißen muss. Doch die Vorstöße aus Paris gingen in den Wirren der Koalitionsbildung in Berlin unter. Außer der freundlichen Zurkenntnisnahme war aus dem Kanzleramt kaum etwas zu hören. Das ist zum Glück jetzt anders. Die grundsätzliche Zustimmung Berlins zum eigenen Haushalt der Staaten der Euro-Zone könnte ein Zeichen dafür sein, dass sich der Reformzug doch in Bewegung setzen könnte. Ähnlich könnten die Bremsen für gemeinsame EU-Streitkräfte gelöst werden, wobei noch sehr viele wichtige Details zu klären wären, etwa der Parlamentsvorbehalt zum Einsatz der Bundeswehr. Doch das scheint lösbar. Der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei Manfred Weber geht derzeit auf Zuhör-Tour durch viele EU-Länder. Das ist nicht nur eine vertrauensbildende Aktion und Wahlkampf des Niederbayern, sondern könnte auch Ressentiments gegenüber einer vorgeblich deutschen Dominanz abbauen. Sollte der CSU-Vize nach der Europa-Wahl im Mai tatsächlich zum Kommissionspräsidenten aufsteigen können, böte das auch die Chance, mit kraftvollen demokratischen Reformen die EU attraktiv und bürgernah zu machen - und Skeptikern und Nationalisten den Wind aus den Segeln zu nehmen.
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