Europa muss aufwachen
Biden oder Trump - egal wie der Chef im Weißen Haus heißt, die EU muss einiger und souveräner werden.
Von Reinhard Zweigler
Kommentar (ots)
Es scheint ein Aufatmen durch die EU zu gehen. Nicht, wie nach den ersten Zwischenergebnissen der US-Wahl befürchtet, Donald Trump, sondern Joe Biden könnte der nächste Präsident heißen. Allerdings ist diese Vor-Freude nur bedingt berechtigt. Wahrscheinlich könnte der Demokrat im Weißen Haus in der Klimapolitik einen anderen Kurs fahren, als der die ernste globale Bedrohung penetrant leugnende Noch-Präsident.Aber einfacher wird der Klimaschutz dadurch kaum. Vier Jahre lang hat Trump die Kohle-, Gas- und Ölindustrie gehätschelt. Der Umstieg zu nachhaltigem Wirtschaften fällt nun umso schwerer. Und die Europäer tun sich gleichfalls schwer, verbindliche Ziele und vor allem Maßnahmen gegen die dramatische Erderwärmung zu ergreifen.Wie wenig schlagkräftig und wie uneins die Gemeinschaft der 27 Europäer -- auch angesichts der Wahlquerelen jenseits des Atlantiks - ist, zeigte jetzt exemplarisch der rechtsnationale slowenische Regierungschef Janez Jansa. Mit seiner Twitter-Gratulation an den vermeintlichen Wahlsieger Donald Trump hat der Premier aus Ljubljana die Zerrissenheit der Europäischen Union aller Welt vorgeführt. Es mag ja sein, dass dem Slowenen der Stolz auf die gebürtige Slowenin und Noch-First-Lady Melania Trump etwas die Sinne vernebelt hat, Europa-dienlich sind solche Peinlichkeiten jedenfalls nicht.Biden hin oder Trump her ist der alte Kontinent, auf dem einst die Wiege der Demokratie stand, nun auf besondere Weise herausgefordert. Die Europäische Union muss einiger und souveräner werden. Das wird zwar seit Jahren gebetsmühlenartig gefordert, nur gebracht hat das wenig. Im günstigsten Falle könnte die bizarre US-Wahl nun für den Ruck sorgen, der die kleinmütigen, im allzu engen nationalen Blick verharrenden Regierungen und Parlamente anstößt, der Kräfte freisetzt, das erstarrte europäische Projekt voranbringt.Das Anlehnen an die starken Schultern der militärischen Weltmacht Nr. 1 ist jedenfalls endgültig vorbei. Auch Biden - Trump sowieso - dürfte von den Verbündeten in EU und Nato verlangen, dass sie wesentlich mehr für ihre eigene Sicherheit tun. Dass noch unter Obama in der Nato formulierte Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben, ist dabei nur die eine Seite der Medaille. In Deutschland ist dieses Ziel derzeit politisch nicht durchsetzbar - und wäre es offenbar auch unter einer schwarz-grünen Regierung nicht. Im Kern der Frage geht es andererseits jedoch nicht nur darum, wie viel Geld künftig ins Militär gesteckt, sondern wie effektiv es verwendet wird, welche Fähigkeiten die europäischen Armeen ausbauen müssen, wenn sich die Amerikaner mehr und mehr zurückziehen - aus Europa und aus internationalen Krisengebieten.Die nächste Nagelprobe für das transatlantische Verhältnis dürfte zudem mit der Corona-Pandemie zu tun haben. Kommt es etwa zum brutalen Wettkampf um den sehnlichst erwarteten Impfstoff oder einigt man sich darauf, dass zuerst dorthin geliefert wird, wo die Not am größten ist?Zudem würde auch Biden schon qua Amt als oberster Interessenvertreter der US-Wirtschaft agieren. Er ist auch ein erbitterter Gegner des deutsch-russischen Gasprojektes. Es wäre schon viel erreicht, wenn sich der künftige Chef im Weißen Haus an die Regeln der Welthandelsorganisation hielte - und nicht nach Gutsherrenart mit Strafzöllen um sich werfen würde.Und so oder so braucht der nächste US-Präsident führungsstarke, demokratiefeste Gegenüber in Berlin, Brüssel oder Paris. Für die Union in Deutschland bedeutet das freilich: eher Markus Söder oder vielleicht noch Friedrich Merz, als Armin Laschet oder Norbert Röttgen.
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