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Landeszeitung Lüneburg: ,,Washingtons gravierendster Fehler" -- Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Gerke zur Finanz- und Wirtschaftskrise

Lüneburg (ots)

Die Große Koalition streitet derzeit über den
Inhalt des zweiten Konjunkturpaketes, mit dem die schlimmsten 
Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise abgefedert werden. Eine 
Krise, die in den USA entstand und durch einen ,,gravierenden Fehler"
noch vergrößert wurde, sagte der Bankenexperte Prof. Dr. Wolfgang 
Gerke im Gespräch mit unserer Zeitung. Denn, so Gerke, die USA ließen
die angeschlagene Traditionsbank Lehman Brothers in die Insolvenz 
rutschen.
Herr Prof. Gerke, Sie gehörten zu den ersten, die im Zuge der 
US-Immobilienkrise vor einem Flächenbrand gewarnt hatten. Vor einem 
Jahr widersprachen Sie der Ansicht des Deutsche-Bank-Chefs Josef 
Ackermann, dass die Finanzkrise bald ausgestanden sei und warnten vor
einem schweren Jahr 2008. Hat Sie nun das extreme Ausmaß der Krise im
Nachhinein überrascht?
Prof. Dr. Wolfgang Gerke: Mich hat nicht überrascht, dass die Krise 
auf die Realwirtschaft übergegriffen hat, denn genau das war meine 
Befürchtung. Anders als Finanzkrisen wie etwa 1987 ist diese Krise 
aber von so fundamentaler Natur, dass die gesamte Wirtschaft weltweit
betroffen ist. Dieses Ausmaß hatte ich nicht erwartet. Ich glaube, 
dass ein ganz gravierender Fehler der Amerikaner für die Ausweitung 
der Krise verantwortlich ist: Sie haben Lehman Brothers in Insolvenz 
geraten lassen in der Annahme, auf diese Art und Weise könnte man 
Europa und Asien an der Finanzierung der Rettungsaktionen für 
US-Finanzinstitutionen beteiligen. Schließlich hatte Lehman Brothers 
viele Verbindlichkeiten außerhalb der USA. Aber die Folgen des 
Zusammenbruchs von Lehman Brothers für die Weltwirtschaft sind so 
gravierend, das Vertrauen ist so grundlegend verloren gegangen, dass 
auch die Amerikaner viel mehr Geld für die Banken-Rettungsschirme zur
Verfügung stellen müssen als sonst nötig gewesen wäre.
Kann man insofern von einem Versuch des Exports der Schulden 
seitens der USA sprechen?
Gerke: Ja, dieser Versuch wurde schon vorher gemacht, das war der 
Auslöser der Krise. Wir schimpfen zwar nicht zu Unrecht über die Gier
der Banken. Aber die Basis der Finanzkrise legte die US-Regierung mit
ihrer gewaltigen Verschuldungspolitik und insbesondere die 
US-Notenbank mit ihrer Zinspolitik. Über einen längeren Zeitraum 
lagen die Zinsen deutlich unterhalb der Inflationsrate. Dies 
animierte die US-Investmentbanker, mit dem billigen Geld ein 
Schneeballsys"tem zu installieren. Das Geld wurde in Immobilien 
investiert, die man verbriefte und dann das neu gewonnene Geld wieder
kreditwürdigen Immobiliennehmern zuführte.
Geld fast zum Nulltarif gab es 2002/2003, dies gilt als 
Mitverursacher der US-Immobilienkrise. Nun bietet die US-Notenbank 
wieder Geld zum Nulltarif an. Steht zu befürchten, dass das gleiche 
Spiel wieder von vorne beginnt?
Gerke: Ja, das ist zu befürchten. Ich glaube, dass das Spiel sogar in
kürzeren Abständen beginnen wird. Einerseits ist das eine frohe 
Botschaft, denn es bedeutet ja auch, das erst einmal wieder eine 
Euphorie kommen wird. Auf der anderen Seite besteht die große Gefahr,
dass dann wieder nicht gegengesteuert wird. Dennoch ist das Vorgehen 
der US-Notenbank derzeit nicht unbedingt ein Fehler, denn sie 
versucht, eine länger anhaltende Rezession, die auch die 
Kreditkartenunternehmen in große Schwierigkeiten bringen würde, zu 
verhindern. Aber -- wie gesagt -- es besteht die Gefahr, dass nicht 
rechtzeitig gegengesteuert wird.
Ist es ein Fehler, die Stellschraube Zinspolitik aus der Hand zu 
geben?
Gerke: Das wäre angesichts der Alternativen, die es derzeit gibt, 
eine überzogene Kritik. Zwar hat die US-Notenbank ihr Zinspulver 
verschossen, aber sie hat natürlich noch andere Möglichkeiten wie den
Aufkauf notleidender Engagements. Dennoch wird die Fed nicht in der 
Lage sein, sich voll gegen die Rezession zu stemmen. Es ist aber 
richtig, dass man versucht, sie abzuschwächen.
Wird die EZB angesichts des starken Euro und der sinkenden 
Inflationsrate gezwungen sein, die Zinsen in Richtung ein Prozent zu 
senken?
Gerke: Die EZB hat durch sinkende Rohstoffpreise und schnell 
nachlassenden Inflationsdruck auf dem Markt Spielraum bekommen. Sie 
kann und sollte -- auch angesichts der niedrigen Zinsen in den USA 
--die nächsten Zinssenkungsschritte einleiten.
Die Rettungsschirme für die Banken sind längst aufgespannt. 
Derzeit haben Konjunkturpakete zur Eindämmung der Krise 
Hochkonjunktur. Kommt da nicht die Bekämpfung der Ursache der Krise 
zu kurz?
Gerke: Es mag sein, dass die Ursachenbekämpfung derzeit zu kurz 
kommt. Das ist aber nicht dramatisch. Denn zur Ursachenbekämpfung hat
man auch in den kommenden Monaten Zeit, kann sich grundlegend von 
Experten beraten lassen, wie man die Finanzwirtschaft und die 
Notenbank-Politik weltweit neu organisieren soll und wie man 
insbesondere die Aufsicht international anders gestalten muss und 
soll. Wichtig ist, dass man im Moment nicht tatenlos zuschaut, wie 
Kreditinstitute in die Insolvenz geraten und wie die Wirtschaft in 
eine tiefe Rezession hineingerät. Hier ist schnelles Handeln 
notwendig. Dabei muss man sich aber immer vor Augen führen, dass 
viele der Maßnahmen, die man ergreift, zu Lasten der nächsten 
Generationen gehen und insofern gute Investments darstellen müssen. 
Ich bin kein Anhänger von Einzelmaßnahmen -- wie etwa steuerliche 
Vergünstigungen für schadstoffarme Neuwagen. Ich bin dafür, generell 
die Mehrwertsteuer zu senken und damit allen Bürgern einen Anreiz zu 
geben. Denn Waren und Dienstleistungen muss jeder kaufen. 
Gegebenenfalls kann man auch den Solidaritätszuschlag abschaffen. 
Diese Maßnahmen sind längerfristig vernünftig und sinnvoller, als das
Steuersystem immer komplexer zu machen. Hier befinde ich mich im 
Widerspruch zur aktuellen Politik der Bundesregierung.
Die Bundesregierung will gerade mit dem Konjunkturpaket II in die 
Infrastruktur investieren...
Gerke: Soweit es Zukunftsinvestments sind, die man vorziehen kann, 
ist es sicherlich vertretbar. Das entbindet aber nicht von der 
Verantwortung für das völlig missratene deutsche Steuersystem und die
sehr hohe Belastung der Bürger. Wenn man jetzt die Sozialbeiträge und
die Mehrwertsteuer senken kann, erreicht man in jedem Fall nicht nur 
kurz- sondern auch mittelfristig vernünftigere Strukturen als wir sie
zurzeit haben.
Belegt der Milliarden-Betrugsfall des Ex-NASDAQ-Chefs Bernard 
Madoff, dass viele aus den Fehlern nichts gelernt haben?
Gerke: Madoff hat offenbar schon Jahre vor der Krise mit enormer 
krimineller Energie sein Schneeballsystem installiert. Es ist 
erschreckend, dass jemand, der eine so wichtige Funktion an der Börse
hatte, nicht über eine höhere Moral verfügt. Noch bedenklicher ist, 
dass die sonst auch von deutschen Firmen so gefürchtete 
US-Börsenaufsicht SEC Herrn Madoff nicht früher auf die Schliche 
gekommen ist. Da haben die Amerikaner noch eine Menge Hausaufgaben zu
erledigen.
Eigentlich sollte es doch generell auffällig sein, wenn jemand 
hohe Renditen verspricht.
Gerke: Ja, dann sollte man immer hellhörig werden. Denn hohe Renditen
sind nur mit hohen Risiken zu erzielen. Genau das haben auch die 
Investmentbanken gemacht.
Sollte der Staat dann nicht Finanzprodukte, die hohe Renditen 
verheißen, besser gleich untersagen?
Gerke: Nein, es wäre völlig verkehrt, jetzt Risiken zu verbieten. 
Dann würde man letztlich auch Innovationen verbieten -- etwa bei 
Investitionen in risikoreiche Forschung. Es ist allerdings ganz 
wichtig, dass man diejenigen, die im Finanzbereich hohe Risiken mit 
Geldern anderer eingehen, vorschreibt, genügend Haftungskapital 
vorzuhalten und Aufsichtsbehörden gegenüber Bücher transparent zu 
führen. Das halte ich nicht nur für Investmentbanken, Versicherungen 
und traditionelle Banken für erforderlich, sondern vor allem auch für
Hedge-Fonds und Private-Equity-Firmen.
In Deutschland gehen Privatbanken und Sparkassen von einem für sie
guten Jahr 2009 aus. Gehen die Banken also wieder als Gewinner aus 
einer Wirtschaftskrise hervor?
Gerke: Die Banken, die ein tragfähiges -- andere würden sagen 
langweiliges -- Geschäftsmodell haben wie zahlreiche Regionalbanken, 
Genossenschaftsbanken und Sparkassen, haben bewiesen, dass sie 
wesentlich krisenfester sind als Banken, die hochspekulativ im Markt 
sind. Sie haben auch bewiesen, dass sie die von ihnen mitgetragenen 
Landesbanken zum Teil gar nicht brauchen. Genossenschaftsbanken und 
Sparkassen haben sich also glänzend bewährt, was man von den 
Landesbanken nicht behaupten kann. Bei den Landesbanken ist eine 
Strukturreform überfällig. Aber hier sträuben sich noch die einzelnen
Landesregierungen in unverantwortlicher Form.
Kann das deutsche Drei-Säulen-Prinzip als Blaupause für andere 
Staaten dienen?
Gerke: Das müssen die anderen Staaten selbst entscheiden. Auf keinen 
Fall aber sollten sie das mit dem Drei-Säulen-Prinzip verbundene 
System der Landesbanken übernehmen.
Wann rechnen Sie mit einem Ende der Finanz- und Wirtschaftskrise?
Gerke: Die größten Auswirkungen der Krise auf die Realwirtschaft 
werden wir erst im kommenden Jahr sehen. Dazu wird auch gehören, dass
die Zahl der Arbeitslosen wieder steigt. Ich rechne erst Ende 2009 
mit einem Hoffnungsschimmer für die Wirtschaft.
Das Interview führte Werner Kolbe

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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