Landeszeitung Lüneburg: ,,Krisenzeiten sind Kanzlerzeiten" -- Interview mit Prof. Dr. Gerd Langguth
Lüneburg (ots)
Der Unmut der konservativen Kräfte in der Union über den Kurs der Bundeskanzlerin Angela Merkel nimmt zu. Aber auch die Kritiker wissen, dass ,,die CDU nur mit Merkel die Wahl gewinnen kann", sagt Prof. Dr. Gerd Langguth im Gespräch mit unserer Zeitung.
Trotz des Appells der CDU-Chefin und Kanzlerin Angela Merkel geht der Streit in der Union weiter. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann warf Merkel vor, Stammwähler vor den Kopf gestoßen zu haben. Hat Herrmann recht? Prof. Dr. Gerd Langguth: Frau Merkel ist mehr in der Lage, neue Wähler für die Union zu gewinnen als sich um die Stammwähler zu kümmern. Herrmanns Vorwurf ist insofern prinzipiell nicht falsch, aber auch nicht neu. Die CSU will sich insgesamt stärker von der CDU absetzen, weil sich der neue CSU-Vorsitzende Horst Seehofer gerne an seinem Vorbild Franz Josef Strauß orientiert.
Gibt es den klassischen Stammwähler überhaupt noch? Langguth: Ja, aber es gibt immer weniger Stammwähler. Das sehen zwar manche Kritiker von Frau Merkel nicht so. Aber die beiden großen Volksparteien haben von der gesamten Wählerschaft her jeweils nur noch zehn bis höchstens 15 Prozent Stammwähler. Wenn sich also Frau Merkel nur auf die Stammwähler konzentrieren würde, wäre die CDU eine Partei für die Minderheit. Im Zusammenhang mit der Papst-Äußerung erhielt Frau Merkel in der Bevölkerung zwar eine enorme Zustimmung von 71 Prozent. Doch beim kleinen, harten Kern der treuen katholischen Wähler stieß sie auf heftige Kritik. Genau diese Wähler waren und sind aber eine wichtige Größe für die CDU. Merkel muss den Spagat hinbringen: Stammwähler zu integrieren und neue Wähler zu gewinnen.
Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter sagt, dass die Wählerschaft der Union erodiert. Das Bürgertum, einst Stütze der CDU, wähle jetzt vornehmlich links. Wirtschaftskonservative setzen mittlerweile eher auf die FDP. Wen wollen die konservativen Kräfte in der Union überhaupt noch als Wähler gewinnen? Langguth: So wichtig es ist, dass sich die Union um konservative Wähler kümmert, damit diese sich nicht eine neue Heimat suchen, so sehr führt auch die neue ,,K-Frage" -- also die Frage nach dem Konservatismus in der Partei -- in die Irre, wenn man sich nur um Konservative kümmert. Der hohe Beliebtheitsgrad von Frau Merkel basiert vor allem darauf, dass sie einer breiteren Bevölkerungsschicht als wählbar gilt. Ich gehe davon aus, dass Frau Merkel die Union bei der nächsten Wahl mit ihrem Kanzlerbonus eher nach oben ziehen wird. Denn sie hat ein besseres Image als ihre Partei. Das war übrigens früher anders: Helmut Kohl hatte ein schlechteres Image als seine eigene Partei. Insgesamt muss man feststellen, dass beide Volksparteien erodieren. Das ist ein natürlicher Prozess, der noch dadurch beschleunigt wird, dass Union und SPD zusammen regieren. Von dieser Konstellation profitieren die kleinen Parteien selbst dann, wenn sie sich stärker klientelistisch ausrichten. Für die weitere Entwicklung von Union und SPD wäre es besser, wenn es nach der Wahlnacht im September zu einer kleinen Koalition kommen würde. Noch ist die CDU eine echte Volkspartei, die sich aber gerade dadurch auszeichnet, Unterstützung bei allen Schichten der Bevölkerung zu erhalten.
Viele Konservative nehmen Angela Merkel übel, dass sie zusammen mit Familienministerien Ursula von der Leyen der Union ein neues Familienprofil bis hin zu Vätermonaten beim Elterngeld verpasst hat. Merkel reagierte damit eigentlich nur auf längst vollzogene Veränderungen in der Gesellschaft. Die Union ist jedoch erst seit einigen Monaten auf Talfahrt in der Wählergunst, da war die Neuausrichtung in der Familienpolitik längst beschlossen. Woher kommt dann der Unmut in ihrer Partei? Langguth: Zunächst einmal muss man festhalten, dass die Familienpolitik von Frau von der Leyen breiteste Akzeptanz in der Gesamtbevölkerung findet -- mit Ausnahme eines relativ kleinen Kerns vor allem katholischer Wähler. Frau von der Leyen und Frau Merkel haben dafür gesorgt, dass die reale Situation der modernen Gesellschaft in der CDU angekommen ist. Das gilt auch für andere Themen wie etwa dem der gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Frau von der Leyen ging es vor allem aber um die Stärkung der Familie. Sie hat es geschafft, das Thema Familie, das jahrelang die SPD gepachtet hatte, wieder als christdemokratisches Thema erscheinen zu lassen.
Warum hat dann die CDU in der Wählergunst nicht zulegen können? Langguth: Weil die Zeiten, in denen man quasi mit den Chromosomen ein geborener Christ- oder Sozialdemokrat war, längst vorüber sind. Die Zahl der Stammwähler ist drastisch gesunken, die Milieuorientierung hat nachgelassen. Wir leben in einer Zeit der Singularisierung und in einer Zeit der Pluralisierung der Lebensstile. Die Parteien können nicht mehr auf die gleiche Loyalität in der Bevölkerung bauen wie das noch vor 20 oder 30 Jahren der Fall war. In den 70er-Jahren hatten die beiden großen Parteien mehr als 90 Prozent der Wählerstimmen, jetzt sind es nur noch 65 bis 70 Prozent. Vor allem für die SPD stellt sich die Frage, ob sie überhaupt noch eine Volkspartei ist. So ist die SPD in Sachsen nach CDU und Linken nur noch die dritte Kraft. Der Aderlass der Volksparteien setzte also schon weit vor einer Parteichefin Merkel ein. Spätestens mit dem Aufkommen der Grünen in den 80er-Jahren verstärkte sich die Erosion. Die Partei Die Linke forcierte diese Entwicklung noch. Wir haben damit allerdings auch ein Stück weit eine europäische Normalisierung, ein Ausfransen des politischen Spektrums. In Frankreich oder in Italien gibt es mehrere sozialdemokratische oder konservative Parteien. Früher wurde Deutschland um die beiden Volksparteien beneidet, weil sie einen großen Beitrag zur politischen Stabilität unseres Landes geleistet haben. Heute muss man feststellen: Je mehr Parteien in den Bundestag einziehen, desto instabiler kann sich die politische Situation entwickeln.
Das klingt schon fast nach Weimarer Verhältnissen. Langguth: Nein, so weit gehe ich derzeit nicht. Denn wir haben demokratisch gefestigte Strukturen. Dennoch werden wir künftig mit einer bunteren parteipolitischen Situation zu rechnen haben. Weimar liefert allerdings einen Hinweis darauf, dass es gut sein kann, wenn wir nicht zu viele Parteien im Bundestag haben.
Die Wirtschaftskrise erfordert Maßnahmen, die keine Partei nur aus dem Repertoire ihres Programms liefern kann. Glauben Sie, dass die Union weiteren Boden bei den Wählern verliert, wenn sie Realpolitik der Parteipolitik unterordnet? Langguth: Frau Merkel wird aus den eigenen Reihen vorgeworfen, dass sie zu wenig Parteipolitik und zu viel Politik einer neutralen Kanzlerin macht. Die Aussage des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Oettinger, die Kanzlerin solle den Uniformrock des Wahlkämpfers anziehen, halte ich für falsch. Ein Kanzler gehört zwar immer einer Partei an, aber in der derzeitigen wirtschaftlichen Krise würden es die Bürgerinnen und Bürger Frau Merkel übel nehmen, wenn sie parteipolitische Aspekte sichtbar in den Vordergrund stellen würde. Krisenzeiten sind Kanzlerzeiten und nicht Zeiten von Parteien.
In diesen Krisenzeiten handelt Frau Merkel also richtig? Langguth: Ja, ich denke schon, dass die Bundesregierung alles in allem auf die Bank- und Finanzkrise richtig reagiert hat. Merkel hat nur ein Prob"lem: Sie ist ihrer eigenen Partei fremd geblieben. Sie wird jedoch auch das Beispiel Gerhard Schröders richtig einzuschätzen wissen. Schröder war mit Basta-Worten nicht durchgekommen. Und als er den Parteivorsitz an Franz Müntefering übergab, war dies der Anfang vom Ende seiner Macht. Frau Merkel wird, so wie ich sie kenne und einschätze, den Parteivorsitz nicht abgeben. Ihr Fehler war es aber, nicht alles unternommen zu haben, die Partei voll mitzunehmen. Die derzeitige Kritik ist daher ein Warnschuss vor den Bug. Das Rumoren in der Union wird aber bald beendet sein müssen. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass die Union nur dann stark ist, wenn sie geschlossen in den Wahlkampf zieht.
Sie haben in ihrer Merkel-Biografie geschrieben, dass sie als ideologiefreie Naturwissenschaftlerin eine Generalistin ohne historische Fixierung sei. Ist sie damit auch eine Parteivorsitzende ohne Partei oder eher nur eine Ost-Kanzlerin ohne Stallgeruch? Langguth: Eine Ost-Kanzlerin ist Frau Merkel nicht. Ich schätze sie so ein, dass sie in der Wendezeit ganz schnell zu einer Westdeutschen mutierte. Ihr Problem war, dass sie von den Ostdeutschen lange Zeit als Westdeutsche und von den Westdeutschen als Ostdeutsche angesehen worden ist. Erst mit dem Beginn ihrer Kanzlerschaft wurde sie sozusagen idealtypisch eine Gesamtdeutsche. Frau Merkel ist eine Parteivorsitzende, die ihre Partei eigentlich fest im Griff hat. Das zeigen ihre guten Ergebnisse auf Parteitagen. Ihre Stärke, die bei vielen Wählern gut ankommt, ist ihr ideologiefreies Handeln. Sie ist aber im Gegensatz zu Helmut Kohl keine Geschichtsdeuterin. Gerade konservative Wähler wollen eine historische Einordnung der Politik der Gegenwart. Frau Merkel ist vom Typ her außerordentlich nüchtern, emotional nicht mitreißend. Auch dies sorgt in den Reihen der CDU immer wieder für Naserümpfen. Aber selbst ihre Kritiker wissen, dass die CDU nur mit Merkel die Wahl gewinnen können.
Das Gespräch führte Werner Kolbe
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