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Landeszeitung Lüneburg: Die Kulturnation liegt in Trümmern
Der britische Historiker Paul Ginsborg rät seinen besten Studenten, aus Italien auszuwandern

Lüneburg (ots)

Ein neues Parlament wird am Wochenende im krisengeplagten Italien gewählt. Der Historiker Paul Ginsborg erklärt, warum noch so viele Italiener den skandalumwitterten Ex-Premier Silvio Berlusconi unterstützen, und welche Verantwortung Helmut Kohl für den Erfolg des Medienmoguls trägt.

Berlusconi hat während seiner vielen Regierungsjahre kein einziges Versprechen eingehalten. Nun kehrt er mit unrealistischen Vorschlägen zurück. Wieso unterstützen ihn noch so viele Italiener?

Paul Ginsborg: Ich denke, es gibt verschiedene Erklärungsebenen eines Phänomens, das im Ausland als völlig unerklärlich scheint. Die erste ist, dass Berlusconi sehr gut die Sektion der italienischen Bevölkerung vertritt, die immer wirtschaftlich dynamisch war: die kleinen Familienunternehmen, die Selbstständigen, die in der italienischen Realität präsenter sind, als in jedem anderen europäischen Land. Wir reden von 28 Prozent der Beschäftigten. Diese Familien und Unternehmer samt deren Arbeiter waren immer große Berlusconi-Befürworter. Denn dieser verkörpert den Selfmademan, jemanden der sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hat. Sie lieben Berlusconi, weil er verspricht, Steuer zu senken, aber vor allem, weil er ein Bild des Staates vertritt, der statt seine Nase in die Geschäfte der Unternehmer zu stecken, ihnen grundsätlich Spielraum lässt, sich zu konsolidieren und zu bereichern. Dieser Teil der Bevölkerung ist nicht zu unterschätzen. Das gleiche gilt für eine andere Sektion, die Umfragen zufolge den treuesten Berlusconi-Wähler stellt: Hausfrauen über 55, die mehr als drei Stunden pro Tag Berlusconis Fernsehsender gucken. Allen Skandalen, Lügen und Prozessen zum Trotz, glauben diese Menschen, dass Berlusconi ihnen mehr Garantien für ihre Zukunft geben kann als jeder andere Politiker.

Für ein Funktionieren der Gesellschaft muss der Bürger Regeln einhalten, etwa des Fiskus, der Justiz. Berlusconi hat dies als erster Bürger nicht getan. Hat der Berlusconismus die öffentliche Moral verändert?

Ginsborg: Ich denke, ja. Und wahrscheinlich hat sie sich verschlechtert. Andererseits Sie, wie die Deutschen, und ich, wie die Engländer, sollen uns vorsehen, automatisch auf Italien Standards anzuwenden, die wir von unseren Regierungen erwarten, von unserer politischen Klasse. Italien ist immer ein Land gewesen, in dem Vetternwirtschaft stark präsent ist, Korruption und Bestechung zum Alltag gehören. Wo oft die Gewissheit des Gesetzes fehlt, das Abhören, Erpressen dagegen im Überschuss da ist. Genauso wie in anderen mediterranen Ländern, Griechenland etwa, oder das zutiefst korrupte Ägypten. Es ist schwierig, weil Italien gleichzeitig in Europa und am Mittelmeer ist, eine Kombination, die in zwei entgegengesetzte Richtungen führt. Berlusconi lobt Mussolini. Grillo will ein Referendum, um den Euro abzuschaffen, Maroni eine lombardische Währung schaffen. Entfernt sich Italien immer mehr von Europa? Ginsborg: Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, man sollte unterscheiden zwischen der Oberfläche der italienischen Politik, die stets melodramatisch war und noch ist, und der Realität. In der Wirklichkeit ist Bersani der voraussichtliche Wahlsieger. Er wird nur im Abgeordnetenhaus die Sitzmehrheit erringen und diese im Senat verfehlen. Dort wird er eine Koalition mit Monti angehen. Der Chef der Sozialdemokraten ist ein sehr besonnener Mann. Ich habe nie einen so gemäßigten Ex-Kommunisten erlebt.

Also muss Europa nicht das Schlimmste befürchten?

Ginsborg: Ich denke nicht. Ich wäre richtig überrascht, wenn Berlusconi gewinnen würde, obwohl er eine fulminante Aufholjagd hingelegt hat, indem er seine ganzen Fernsehsender eingesetzt hat. Und indem er sich noch im Alter von 76 Jahren für fähig erwiesen hat, sich seinen Wählern so zu zeigen, wie kein anderer. Italien stellt meiner Meinung nach keine Bedrohung für Europa dar. Seit 1994 verleumdet Berlusconi Europa, nie hat er es gewagt, Italien von Europa zu entfernen, wenngleich seine letzte Regierung in vielerlei Hinsicht ein Desaster war.

Die größte Gefahr - wie die Umfragen zeigen - ist die Zersplitterung. Dass niemand wirklich gewinnt. Italien wäre dann unregierbar. Erwarten Sie ein Abdriften wie in Griechenland?

Ginsborg: Nein, das erwarte ich nicht. Es steht mir eigentlich nicht zu, vorherzusehen. Ich blicke für gewöhnlich in die Vergangenheit. Aber wenn ich einen Blick in die Zukunft wagen soll, dann sehe ich eine Koalition Bersani-Monti. In der Geschichte der italienischen Republik würde also nochmals die Kontinuität siegen.

Bersani verspricht kein Steuerparadies, stellt stattdessen das Problem der Arbeit in den Wahlkampf-Mittelpunkt. Wie bewerten Sie sein Programm? Beflügelt oder benachteiligt sein Appell zum Realismus das Mitte-Links-Bündnis?

Ginsborg: Es ist sehr gut, dass Bersani dies tut. Die Arbeit IST das Problem Nummer eins der italienischen Gesellschaft, insbesondere der Jugend, und vor allem der Jugend im Süden und auf den Inseln. Was Wünsche und Hoffnungen einer ganzen Generation betrifft, der Generation unserer Kinder, erleben wir eine ähnlich dramatische Situation wie Spanien. Dies verursacht großen Kummer in den Familien. Was Bersani arg zugesetzt hat, ist der Skandal bei der Bankengruppe Monte dei Paschi di Siena. Das Geldhaus war jahrzehntelang vom Partito Democratico und dessen Vorläufern, den Kommunisten und Linksdemokraten beherrscht worden. Maßgebliche Aktionärin war eine Stiftung, die von der Stadt Siena, eine Hochburg der Linken, kontrolliert wurde.

Viele junge Leute wandern aus, um dem perspektivlosen Leben des Prekariats zu entkommen. Wie ermutigen Sie Ihre Studenten?

Ginsborg: Meinen besten Studenten sage ich, sie sollen gehen. Mit tiefstem Bedauern, denn ich lebe in Italien. Aber Tatsache ist, dass die letzte Regierung Berlusconi, aber leider auch die Regierung Monti, sich besondere Mühe gaben, die Schule und Universität in Schutt und Asche zu legen. Ausscheidende Professoren werden nicht ersetzt. Die renommierte Fakultät für Geschichte der Universität Florenz etwa ist in den vergangenen fünf Jahren halbiert worden. Wir erleben einen Verfall der Forschung, Lehre und Verwaltung. Das eingestürzte Haus der Gladiatoren in Pompeji ist nur ein Beispiel des kulturellen Niedergangs des Landes. Zahlreiche Museen wurden geschlossen, Jahrtausende alte Kunstwerke sind unwiederbringlich verloren. Die Kulturnation schafft es nicht, ihren größten Reichtum zu bewahren. Es gab bereits zahlreiche Bekundungen von Empörung.

Eine Folge der Kürzungen ist, dass in vielen Schulen die Heizung abgedreht wurde...

Ginsborg: Sowohl in Schulen als auch in Universitäten. Wir unterrichten mit Mantel, unsere Studenten sitzen dort mit Mänteln. Das ist unfassbar.

Der scheidende Ministerpräsident Monti hat Italien aus dem Wirtschaftsdesaster geführt. In Deutschland ist er geschätzt. Wieso ist es in Italien nicht der Fall?

Ginsborg: Monti hat Italien nicht gerettet. Die Staatsverschuldung ist unter Monti gestiegen. Er konnte lediglich die Zinskosten drücken. Die Schulden sind erdrückend, keine Regierung könnte sie je begleichen.

Hat Monti sich durch die eingeführte Immobiliensteuer auf das erste Haus besonders unbeliebt gemacht?

Ginsborg: Ich weiß es nicht. Härte war in Italien immer unbeliebt, und Monti verspricht Härte. Er hat gewiss viel Wichtiges getan. Er war ein hervorragender Botschafter für Italien, was eine enorme Erleichterung nach der Performance Berlusconis war. Ich denke, Monti war ein Meister darin, sich als der Retter der Nation zu verkaufen. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit unter ihm gestiegen und das Land steckt nach wie vor tief in der Krise.

Der frühere Komiker Beppe Grillo kanalisiert mit seiner Internetbewegung Fünf Sterne den politischen Unmut der Bürger. Handelt es sich um gefährlichen Populismus?

Ginsborg: Das kommt aber nur bei einem Teil der Italiener an. Es stimmt allerdings nachdenklich, dass Montis Koalition der Mitte viel weniger Befürwörter hat. Grillo verkörpert den Protest gegen die Korruption der Politiker, die Langsamkeit der Justiz, gegen all das, was in Italien nicht funktioniert und nie funktioniert hat.

Eine Protestbewegung ohne Wahlprogramm?

Ginsborg: Was die politische Klasse betrifft, hat er allerdings ein wahres Programm: Er will sie reduzieren, deren Gehälter stark kürzen. Ein Wirtschaftsprogramm hat er nicht. Seine Fünf-Sterne-Bewegung könnte in der Abgeordnetenkammer bis zu 100 Sitze erobern. Was wird dann passieren? Werden die Grillo-Anhänger Italiens politische Sphäre verändern, oder wird die politische Sphäre sie verändern? Ich tippe auf das Zweite. Auch die Anhänger der Lega Nord kamen als ,,Revolutionäre" an die Macht, um päpstlicher als der Papst zu werden.

Wie viel zählen die wenigen Oppositionsblätter gegenüber Berlusconis Kontrolle von mehreren TV-Kanälen? Ist ein Wahlkampf fair, wenn Medien nicht unparteiisch sind?

Ginsborg: Nein, der ist nicht fair. Ich denke, dass die Demokratie eine vollkommen unausgewogene Ausgangsposition hat. Das Wahlkampffeld, das für alle gleich sein sollte, war nie neutral. Berlusconi hat viel zu lange zu viel unter seiner Kontrolle gehabt, und das Mitte-Links-Lager war zu entgegenkommend. Selbst in diesem Wahlkampf hat Bersani darauf verzichtet, Berlusconi zu attackieren. Es wäre kontraproduktiv, behauptet dieser. Wie kann aber kontraproduktiv sein, offenzulegen, dass die Möglichkeiten der Kandidaten von vornherein im Ungleichgewicht sind? Berlusconi hat es geschafft, vier mal präsenter im Fernsehen zu sein als jeder andere Spitzenpolitiker. Und das nicht nur in seinen Sendern. Das ist skandalös. Auch Europa hätte diesbezüglich nicht so zögerlich sein sollen. Aber eins sollen wir nicht vergessen: Es war Helmut Kohl, der Berlusconi maßgeblich verhalf, in die Europäische Volkspartei aufgenommen zu werden. Und das ist eine große Verantwortung, denn dadurch ist der Medienmogul von Anfang seiner Karriere an zu einem achtenswerten Politiker gemacht worden.

Das Interview führte Fanny Pigliapoco

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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