Landeszeitung Lüneburg: Der verheerende Versuch der politischen Eliten, den Tiger zu reiten
Prof. Herfried Münkler: Der Erste Weltkrieg war der Brutkasten für die Technologien, Strategien und Ideologien von heute
Lüneburg (ots)
Vor 100 Jahren ging das alte Europa unter. Die tödlichen Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten am 28. Juni 1914 in Sarajevo ließen den "Alptraum der Koalitionen" in einen Weltenbrand münden. Es kämpften die Mittelmächte, bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn sowie später auch das Osmanische Reich (Türkei) und Bulgarien gegen die Triple-Entente, bestehend aus Großbritannien, Frankreich und Russland sowie zahlreichen Bündnispartnern. Die traurige Bilanz des mit der Niederlage der Mittelmächte 1918 beendeten Weltkriegs: rund 8,5 Millionen Gefallene, über 21 Millionen Verwundete und fast 8 Millionen Kriegsgefangene und Vermisste. Für den Politikwissenschaftler Prof. Herfried Münkler prägte der "Große Krieg" das gesamte 20. Jahrhundert und wirkt bis heute nach.
George F. Kennan sah im Großen Krieg die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts - Sie dagegen ein "Laboratorium". Wo geht Ihr Konzept über das Kennans hinaus?
Prof. Herfried Münkler: Zunächst einmal ist nicht zu bestreiten, dass der Krieg katastrophale Folgen hatte. Alles, was man - wie von Florian Illies beschrieben - 1913 noch erwartet hatte, war 1918 Makulatur. Andererseits war der Krieg nicht nur ein Abbruch von Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, sondern er sorgte auch für Modernisierungsschübe, die eine neue Welt durchsetzten. Politisch mit der hegemonialen Durchsetzung der Demokratie, wenngleich dies unter Schmerzen geschah und in Teilen Europas erst nach 1945. Kulturell in der Hinsicht, dass wohl kein Krieg aus so vielen Perspektiven und so intensiv bearbeitet wurde. Er ebnete dem Zeitalter der Avantgarden den Weg. Und gesellschaftlich, indem aus diesem Krieg der Wohlfahrtsstaat hervorging. Nachdem den Familien Söhne und Väter genommen wurden, musste "Vater Staat" an deren Stelle treten.
Verteilt sich die Schuld am großen Kladderadatsch gleichmäßig auf Europas Politiker?
Prof. Münkler: Gleichmäßig nicht, aber in keinem Fall so, dass den Deutschen die Alleinschuld oder auch nur die Hauptschuld aufzubürden ist. Allerdings hat der Begriff der Schuld in der Rückschau etwas Moralisierendes, als seien hier böse Mächte im Spiel gewesen. Ich denke, man wird der Sache gerechter, wenn man den Begriff "Schuld" durch "Verantwortung" ersetzt. Damit gerät statt des Bösen das Ungeschickte, sogar das Dumme ins Blickfeld. Stellt man Fehleinschätzungen, Fehlurteile und Illusionen statt Moral ins Zentrum, kann man eine Menge lernen. Zudem wird man so den Akteuren im Jahr 1914 eher gerecht, die sich ja in einem Feld des Ungewissen bewegt haben.
Warum misslang im Sommer 1914, was kurz zuvor bei den Balkankriegen noch gelang - die Eindämmung des Konfliktes durch die Großmächte?
Prof. Münkler: Das gründet zum einen in den österreichischen Ängsten, den Großmachtstatus einzubüßen, wenn sie sich weiter von den Serben an der Nase herumführen ließen. Deshalb drängte das von Abstiegsängsten gepeinigte Österreich-Ungarn im Sommer 1914 sehr viel stärker als 1912 und 1913 darauf, jetzt endlich den Serben die Grenzen aufzuzeigen. Zum anderen hat dies aber auch mit der veränderten Rolle Deutschlands zu tun, das bei den vorangegangenen Balkankriegen eher moderierend auf den Bündnispartner einwirkte, nun aber verschärfend. Das lag einerseits an Berlins Sorge, den einzigen Verbündeten zu verlieren, wenn Österreich-Ungarn Renommee und Großmachtstatus einbüßen würde. Andererseits führte hier der Zufall Regie. Reichskanzler Bethmann Hollweg, der bis dahin auf internationale Kooperation gesetzt hatte, fühlte sich vom britischen Außenminister Grey hintergangen. Ein deutscher Spion in der russischen Botschaft in London hatte von britisch-russischen Verhandlungen über eine gegen Deutschland gerichtete britisch-russische Marinekonvention berichtet. Grey bestritt, dass es solche Verhandlungen gäbe. Von diesem Augenblick war Bethmann Hollweg unsicher, ob die von ihm favorisierte Politik der Kooperation wirklich tragfähig war. Deswegen wirkte er nicht moderierend auf Wien ein und setzte nicht mehr auf die Karte eines deutsch-britischen Konfliktmanagements.
Muss man nicht deswegen zumindest für die Juli-Krise ein aktiveres Zusteuern auf den Krieg durch Wien und Berlin feststellen?
Prof. Münkler: Nein, denn die Russen haben den Serben ebenso einen Blanko-Scheck ausgestellt wie die Deutschen den Österreichern. Und die Franzosen wiederum stellten den Russen einen Blanko-Scheck aus. Sicherlich hätten die Russen vorsichtiger agiert, wenn Staatspräsident Poincaré ihnen 1914 in St. Petersburg nicht feierlich die französische Rückendeckung garantiert hätte. Und sicherlich hätten die Serben zurückhaltender agiert ohne die Rückendeckung des Zaren. Hier zeigte sich, dass in dem Moment, in dem die deutsch-britische Achse nicht als Moderator ins Spiel kam, die Bündnissysteme ungehemmt greifen konnten, weil zu viele Blanko-Schecks zirkulierten. Die besondere Verantwortung der Deutschen resultiert aus etwas, was hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten ungern thematisiert wurde: der geopolitischen Lage. Wenn die Macht in der Mitte des Kontinents nicht moderiert, sondern eskaliert, fließen ganz unterschiedliche Konflikte ineinander. In der Folge war der Konflikt nicht mehr eindämmbar, etwa auf den Balkan, sondern wuchs sich zum großen europäischen Krieg aus. Zudem sind hier die unheilvollen Folgen des Schlieffen-Planes zu nennen. Die Ignorierung der belgischen Neutralität und die Kriegsverbrechen gegenüber Zivilisten, als die Belgier Widerstand leisteten, haben den Ruf Deutschlands nachhaltig zerstört. Gegen die neuen "Hunnen" erhoben die Westmächte den Anspruch, die Zivilisation zu verteidigen.
Der deutsche Spion in London sorgte für eine Entfremdung zwischen den Rivalen. Die Fehlleitung der Wagenkolonne führte den Thronfolger erst vor die Pistole des Attentäters: Entlastet die große Rolle des Zufalls in der Vorgeschichte des Krieges die Handelnden?
Prof. Münkler: Nein, die Verantwortung bleibt. Jeder Mensch muss einschätzen, inwieweit Zufälle Gefahren heraufbeschwören oder Chancen eröffnen. Im Vorhinein weiß man meist nicht, ob der Zufall, der einem in die Hände spielt, ein glücklicher oder ein dummer ist - Machiavelli nannte dies Fortuna secunda oder Fortuna adversa, günstiges beziehungsweise widriges Geschick. Erst im Nachhinein ist uns klar, dass Bethmann Hollweg möglicherweise vorsichtiger agiert hätte, wenn er nicht durch den Spion von der britisch-russischen Annäherung gewusst hätte. Da wir den Ausgang der Geschichte kennen, erscheint es uns ratsamer, einem Wissen, das aus Spionage entstammt, nicht so viel Gewicht zuzubilligen.
Selbst im Nachhinein ist es bisweilen schwierig, Geschichte allgemein akzeptabel zu periodisieren. Inwieweit ist der Große Krieg mehr als Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs beziehungsweise erste Phase eines 30-jährigen Krieges?
Prof. Münkler: Jede Zeit hat ihren eigenen Blick auf ein so grundstürzendes Ereignis. Die Periodisierung Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg legt eine eskalatorische Abfolge nahe. Das ist eine geschichtstheoretische Deutung ebenso wie die Annahme eines Dreißigjährigen Krieges zwischen 1914 und 1945. Ernst Nolte hat den Beginn der Konflikte, die zu einem neuen 30-jährigen Krieg zusammengeschrieben werden, allerdings auf 1917 gelegt. Schon Thukydides, der Vater der Geschichtsschreibung, hat auf diese Art Kriege analytisch zusammengeführt. Die Annahme eines Dreißigjährigen Krieges würde aber davon ausgehen, dass alle Entwicklungen, die nach 1914 begannen, nach 1945 endeten oder bedeutungslos wurden. Dem ist aber nicht so, wie sich beim Mauerfall oder dem Ende der Sowjetunion 1991 zeigte. Viele Folgen des Ersten Weltkriegs bestehen nach wie vor: 1. Der unruhige Balkan, in den die Europäer immer investieren müssen, damit er ihnen nicht um die Ohren fliegt. 2. Die Auflösung der großen Reiche im Osten, also die Entstehung von selbstständigen, unabhängigen Nationen im östlichen Mitteleuropa. 3. Der Nahe und Mittlere Osten. Nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches teilten sich Briten und Franzosen die Beute, konnten aber keine stabile Ordnung installieren. 4. Die afrikanische Mittelmeerküste muss auch noch dazu gezählt werden. Der deutsche Generalfeldmarschall Comar von der Goltz sprach von der Beendigung der Herrschaft des weißen Mannes. Dazu betrieben die Deutschen eine Politik der "revolutionären Infektion", um die Kolonialimperien der Briten und Franzosen zu destabilisieren. So drängten sie den Sultan in Konstantinopel, den Heiligen Krieg auszurufen. Mit einer Zeitverzögerung von vierzig Jahren zeigte das Wirkung. Weltgeschichtliche Folgen zeitigten auch der Osteraufstand 1916 in Irland und die von Berlin inszenierte Durchschleusung Lenins, der von Zürich nach Sassnitz reiste, Richtung Russland. Insofern ist der Erste Weltkrieg tatsächlich der Große Krieg, den man analysieren muss, will man das 20. Jahrhundert verstehen.
Ist der 100. Jahrestag auch wichtig, um aus dem Versagen der Verantwortlichen zu lernen?
Prof. Münkler: Man kann ungeheuer viel lernen, beispielsweise, dass man auch das Falsche lernen kann. Dies trifft vor allem auf die Deutschen zu. Sie lernten während des Krieges unablässig auf der militärisch-taktischen Ebene. In der Folge waren sie den Westalliierten bis ins späte Frühjahr 1918 taktisch überlegen, obwohl die Gegner materiell eine erdrückende Übermacht ins Felde warfen. Dies war eine Meisterleistung der Organisation und des militärischen Lernens. Das findet bis heute seinen Niederschlag an den amerikanischen Militärakademien, wo immer noch Dissertationen über die taktischen Innovationen der Deutschen geschrieben werden - von der elastischen Verteidigung über Infiltration im Angriff bis zur Artillerietaktik des Oberst Bruchmüller. Das Unglück der Deutschen war, dass sie das Falsche gelernt haben. Politisch machten sie nämlich keine Fortschritte. Hart formuliert unterlagen sie damit einem Wiederholungszwang, der sie in den Zweiten Weltkrieg führte. Statt immer Hitler, den bayrischen Gefreiten aus dem Regiment List, in den Blick zu nehmen, sollten wir die Ober- bis Oberstleutnante betrachten. Sie waren die Träger dieses Lernens im Ersten Weltkrieg und wurden später Hitlers Generäle. Weiterhin kann man eine Reihe noch heute akuter Problemfelder identifizieren, den Balkan, den Nahen Osten und die Europa gegenüberliegende Mittelmeerküste. Schließlich kann man aus dem Ersten Weltkrieg viel zu den Problemen lernen, die Chinas Machtzuwachs heute aufwirft. Trotz einiger Differenzen gibt es deutliche Analogien zum wilhelminischen Deutschland. Erstens haben die Chinesen, wie damals die Deutschen, einen rasanten ökonomischen Aufstieg hinter sich, fühlen sich aber ebenfalls von den Nachbarn nicht ausreichend anerkannt. Zweitens ist China, wie Deutschland 1914, so groß und mächtig, dass die Nachbarn Angst haben. In der Folge wächst bei ihnen die Neigung zu antihegemonialen Koalitionen gegen China. Drittens ist China wegen seiner rasanten Wandlung vom Agrar- zum Industriestaat abhängig von der Rohstoffeinfuhr aus Übersee. Es ist damit ebenso strangulierbar wie das Kaiserreich. Beides waren bzw. sind keine genuinen Seemächte. Deswegen wächst die Versuchung, der global dominierenden Seemacht - weiland das Britische Empire, heute die USA - eine Risikoflotte entgegenzustellen. Möglicherweise wird Peking den Aufbau seiner Flotte eines Tages ebenso bereuen wie damals Berlin. Vielleicht sind aber auch die Folgen für die USA deutlich dramatischer. Das ist nicht vorhersehbar. Klar ist aber, dass das Konfliktpotenzial in der Region wächst. Viertens existiert mit den Senkaku-, beziehungsweise Diaoyu-Inseln auch heute eine Art Balkan, also ein umstrittenes Areal, das die Lunte für das Pulverfass liefern kann.
Wie ist die dürftige Erinnerungskultur in Deutschland angesichts der weichenstellenden Wirkung des Krieges und des umfangreicheren Erinnerns bei den Nachbarn erklärbar?
Prof. Münkler: Für unsere westlichen Nachbarn war dieser Krieg der verlustreichste im 20. Jahrhundert. Und für unsere östlichen Nachbarn ist dieser Krieg nicht selten der Startpunkt der nationalen Wiederauferstehung beziehungsweise der Geburt als Nation. Das erhebliche Gewicht dieses Krieges wird für diese Staaten nicht durch den Zweiten Weltkrieg überlagert. Das ist bei uns anders. In der Erinnerung der Deutschen schob sich der Zweite Weltkrieg gleichsam wie ein Vorhang vor den Ersten. Gründe sind die Zerstörungen im Bombenkrieg, die ungeheure Schuld der Ermordung der europäischen Juden und die verbrecherische Kriegführung im Osten. Für die Analyse des 20. Jahrhunderts sind aber nicht das Ausmaß der Zerstörungen oder der Schuld ausschlaggebend, sondern die strukturellen Effekte. In diesem Punkt müssen wir Deutschen historisch und politisch noch nachsitzen, um den Ersten Weltkrieg als den eigentlichen Schlüsselkrieg des 20. Jahrhunderts zu begreifen.
Die deutsche Führung erwies sich als taktisch lernfähig, politisch dagegen als stur. Strategisch ignorierte man die Clausewitz`sche Vorgabe, bereits zu Beginn des Krieges den angestrebten Frieden zu definieren. Warum kam es zu keinen Friedensinitiativen, als klar war, dass dieser Krieg viel blutiger als der von 1870 sein würde?
Prof. Münkler: Das Ausbleiben von Friedensinitiativen zu Zeitpunkten, an denen sie noch etwas hätten bewirken können, gründet in einem Paradox der Kriegspolitik. Die Deutschen hätten in einer Phase, in der sie an den Fronten siegten, einen Verhandlungsfrieden anbieten müssen. Doch je erfolgreicher die Truppen waren, desto mehr strebte die Führung nach einem Siegfrieden, statt des möglichen Verhandlungsfriedens. Das mag menschlich verständlich sein, gerade angesichts der hohen Opferzahlen bereits in den ersten Kriegswochen. Politisch war es aber desaströs. In einer solchen Situation hätte man einen Politiker an der Spitze gebraucht, der das Format hatte, sich auch gegen Stimmungen in der Bevölkerung durchzusetzen. Eine Figur von der Stärke Bismarcks hatten die Deutschen aber nicht mehr. Bethmann Hollweg war nicht so stark, und er hatte auch nicht in gleichem Maße das Vertrauen des Kaisers. Also setzte Bethmann Hollweg auf Hindenburg als militärische Galionsfigur, die imstande gewesen wäre, dem Volk einen Verhandlungsfrieden schmackhaft zu machen. Ein fataler Fehler, denn mit Hindenburg setzte sich die Illusion des Siegfriedens als Handlungsmaxime endgültig durch. Zudem waren die Politiker, die seit 1916 aus dem Reichstag heraus Politik machten, zu unerfahren in Machtpolitik. Also ließen sie sich von der Dritten Obersten Heeresleitung ein ums andere Mal instrumentalisieren, weil sie viel zu spät realisierten, dass die OHL ihr eigentlicher Gegner war. Im Übrigen gilt, dass Koalitionskriege im Hinblick auf Friedensschlüsse besonders schwierig sind. Während der eine Alliierte gerade gut dasteht, muss der andere Rückschläge verdauen und hat deshalb kein Interesse an Verhandlungen. Dies betraf sowohl die Triple-Entente als auch die Mittelmächte.
Wieso hielt sich trotz Frontlinien im Ausland in Deutschland das Gefühl, einen Verteidigungskrieg zu führen?
Prof. Münkler: Der erste Staat, der mobil machte, war Russland. Das war zwar nur eine Teilmobilmachung, die sich gegen Österreich-Ungarn richtete, doch der Schlieffen-Plan, die Gegner im Westen und Osten nacheinander zu bekämpfen, nahm der deutschen Führung die Möglichkeit, abzuwarten. Folglich wurde auch die deutsche Offensive im Westen quasi als vorgeschobene Verteidigung begriffen. Außerdem befanden sich die deutschen Truppen vom Oktober 1914 bis zum Frühjahr 1918 an der Westfront taktisch im wesentlichen in der Defensive.
Brachte der Große Krieg das Bürgertum in Europa um seine Chance zur Machtausübung?
Prof. Münkler: Ja, das gilt für alle Länder, am dramatischsten wohl für Russland. Hätte der Krieg nicht stattgefunden, hätte zweifellos das Bürgertum in Europa auf der politischen Ebene das nachgeholt, was es auf der ökonomischen und kulturellen Ebene bereits erreicht hatte - nämlich eine Hegemonialposition in der Gesellschaft einzunehmen. So bestand im Sommer 1914 im deutschen Bürgertum die Befürchtung, eine nicht ausreichend patriotische Reaktion würde die privilegierte Position der Aristokratie zementieren. Bürgerliche engagierten sich massiv für den Krieg: Sie zeichneten Kriegsanleihen, setzten also große Teile ihres Vermögens für den Krieg ein. Sie schicken ihre Kinder an die Front, beziehungsweise können die Söhne, die unbedingt an die Front wollen - wie der Sohn von Käthe Kollwitz - nicht zurückhalten. Die Opferbereitschaft der Bürgerlichen wird noch dadurch angeheizt, dass die Schicht, die in der sozialen Rangordnung noch hinter ihnen steht, die Arbeiterschaft, ebenfalls große Opfer bringt. Es entstand eine Konkurrenz um die Frage, wer hat sich eigentlich um das Vaterland mehr verdient gemacht? Und wer kann daraus politische Hegemonialansprüche ableiten? Die Tragödie des Bürgertums bestand darin, dass es seine Söhne verlor, dazu sein Vermögen und seine politische Orientierung auf die Mitte. In der Folge wanderte es in der Weimarer Republik nach rechts.
Sie haben geschildert, wie sehr Asiens Gegenwart Europas Vergangenheit ähnelt. Abstiegsängste finden sich heute in Japan und den USA, Einkreisungsängste in China. Wie kann in einer solchen Situation Vertrauen aufgebaut werden?
Prof. Münkler: Die europäische Lösung heißt KSZE/OSZE. Also die Schaffung eines Konsultationsmechanismus, der die Eskalation des Misstrauens blockiert. So gewinnt man in Krisen Zeit, kann Missverständnisse ausräumen und verhindern, dass eine politische Elite den Griff zur Waffe als einzige Option darstellt. Das in Europa einzuführen, fiel sehr viel leichter, als es in Asien möglich sein wird, weil in Europa die dominierenden Akteure die beiden Flügelmächte USA und UdSSR waren. China liegt als imperialer Akteur hingegen im Zentrum der ostasiatischen Ordnung. Die Vorstellung der Deutschen, aus der Mitte des Kontinents eine imperiale Konsolidierung des Gesamtraumes durchzusetzen, lag längst in Trümmern, als der Entspannungsprozess angeschoben wurde. Für Peking ist eine derartige Versuchung hingegen noch sehr aktuell. Eine Renaissance der Vorrangstellung des Reiches der Mitte erscheint vielen sogar als etwas Natürliches. Folglich wird man dieses europäische Modell der Vertrauensbildung nicht einfach übertragen können.
John F. Kennedy beherzigte in der Kuba-Krise Lehren aus dem Versagen der Politiker im Juli 1914. Sehen Sie auf japanischer, chinesischer und amerikanischer Seite Personen mit einer vergleichbaren Lernbereitschaft?
Prof. Münkler: Kaum. Der alte Deng Xiaoping hatte diese Fähigkeit in der Außenpolitik. Aktuell darf Augenmaß am ehesten von Seiten der USA erwartet werden. In dieser Dreier-Konstellation kommt ihnen die Rolle des Moderators zu. Doch sowohl die japanische als auch die chinesische Seite spielen derzeit mit nationalen Ressentiments. Und dies ist ein spannender Punkt mit Analogien zum Großen Krieg: Der Sommer 1914 zeigte, dass das Spiel mit nationalen Ressentiments Erwartungen weckt, die irgendwann von den politischen Eliten nicht mehr domestiziert werden können. Sie glauben, sie reiten den Tiger, doch der reißt sie mit und schüttelt sie ab.
Das Interview führte Joachim Zießler
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