Landeszeitung Lüneburg: Ohne linke Antworten droht ein Schwenk nach rechts Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele findet den Ruf der CSU nach einer "Konservativen Revolution" absurd
Lüneburg (ots)
Von Joachim Zießler
Wie bewerten Sie das Vermächtnis der 68er-Revolte? Hans-Christian Ströbele: Die Außerparlamentarische Opposition (APO) hat Ende der 60er-Jahre den Anstoß für radikale, ja, revolutionäre Veränderungen der Gesellschaft gegeben - die ich auch heute nicht missen möchte. Betrachtet man etwa den Wandel in der Einstellung zu Familien, zur Liebe oder zur Erziehung, ist kaum noch vorstellbar, was in den 50er- und 60er-Jahren im Gesetz stand und als richtig galt. Hätte mir damals jemand gesagt, dass es mal möglich sein würde, seinen schwulen Partner zum Standesamt und vor den Altar zu führen, hätte ich ihn für irre gehalten. Selbst die heute so alltäglichen Wohngemeinschaften waren damals ebenso wenig akzeptiert wie uneheliche Kinder oder die Berufstätigkeit alleinerziehender Mütter. So gab es Modernisierungen, bei denen man gar nicht an die 68er denkt - weil deren Anstoß fortwirkte - zum Beispiel in der Frauenbewegung. Die 68er waren dominiert von Männern und hatten wenig mit der Gleichberechtigung am Hut. Das Aufbegehren, das der Emanzipation zum Durchbruch verhalf, begann damals. Vieles, was später von den Grünen vertreten wurde, kam aus der 68er-Bewegung.
Ist ein grüner Ministerpräsident ein Triumph der 68-er-Bewegung oder deren Verrat? Ein grüner Ministerpräsident ist eine Chance zu weiterer Modernisierung, die noch zu wenig genutzt wird. Könnte Winfried Kretschmann im Daimler-Land Baden-Württemberg eine grünere Agenda verfolgen? Mir ist die Nähe zur Großindustrie zu groß. Sicherlich braucht man sie, um Jobs und Wohlstand zu sichern. Aber ein wenig mehr persönliche Distanz, macht zuweilen notwendige radikale Veränderungen sowie deren Durchsetzung und Vermittlung einfacher.
Der einst starke linke Flügel der Grünen schwächelt, geht der Zug trotz des Scheiterns von Jamaika zur Schwarz-Grünen Koalition? Das ist leider unübersehbar. Ich war gegen Jamaika und entsprechend froh, als die geplante Koalition von Union, FDP und Grünen geplatzt war. Und wenn man etwa die derzeitige Flüchtlingspolitik von Innenminister Seehofer nimmt, ist schwer vollstellbar, dass Grüne und CSU da einen Konsens gefunden hätten. Die Rückweisung von Flüchtlingen an der Grenze zu Lasten deren Rechte als bloße Symbolpolitik, um im bayerischen Landtagswahlkampf punkten zu können, wäre für die Grünen nicht tragbar gewesen. Die Liste der Unvereinbarkeiten zieht sich hin bis zu den Kriegseinsätzen. Ich bin kein Pazifist, habe etwa in den 80ern Geld für Waffen gesammelt, als das Volk von El Salvador gegen seine Militärdiktatur aufstand, aber dass die Koalition (Union/SPD) die Bundeswehr immer häufiger zu Kampfeinsätzen ins Ausland schickt, habe ich stets abgelehnt und bekämpft.
Wieso brauchten ausgerechnet die Grünen, die es sich hoch anrechneten, alles in Frage zu stellen, Jahrzehnte, um das Verharmlosen von Sex mit Kindern in den eigenen Reihen zu verurteilen? In Bund und Ländern haben die Grünen das schwieriges Kapitel doch schneller aufgearbeitet. Wenn gesellschaftliche Gruppen die Verhältnisse radikal in Frage stellen, zieht das Leute an, die noch weiter gehen wollen auch aus persönlichen Interessen. Als die Grünen in Fortführung der Ideale der 68er gegen überholte und verklemmte Einstellungen zur Sexualität angingen, grenzen sie sich nicht deutlich genug von denen ab, die dies noch weiterdrehen wollten. Viele berücksichtigten zu wenig das Kindeswohl.
Die Partei hatte Straffreiheit für "einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern" gefordert... Nee. So weit ging es denn doch nicht. Unserer Debattenkultur ließ auch nicht zu, nach der Polizei zu rufen, als das Podium des Parteitages in Nürnberg, von einer "Indianerkommune" gestürmt wurde, um uns zu zwingen, über die Freigabe der Sexualität mit Kindern zu debattieren. Die Tagesordnung wurde unterbrochen, um über den Abzug zu diskutieren. Man versuchte, sie ruhigzustellen. Es gab durchaus heftige Diskussionen. Nach zwei Stunden ging es mit der Tagesordnung weiter. Es gab keine Mehrheit für Pädophilie und die Befassung mit dem Thema.
Inwieweit war die 68er-Revolte eine deutsche, weil sie das bleierne Schweigen zu den Verbrechen in der NS-Zeit aufbrach und inwieweit bloß internationaler Widerhall, weil in West und Ost die Zeichen auf Aufbegehren standen? Wir sahen uns international als Teil der weltweiten APO-Bewegung. In jedem Land, in dem es 1968 gärte, gab es andere Hauptprobleme. In den USA stand der Kampf der Schwarzen um volle Bürgerrechte im Vordergrund. Italien litt schon damals unter extrem verkrusteten Parteien. Hinzu kam eine militante Rechte, die einen quasi-faschistischen Staat herbeibomben wollte. In Frankreich war die APO so stark, daß sie den Präsident fast zum Rücktritt zwang, weil sie die Gewerkschaften auf ihrer Seite hatte. Gleich war allerdings in allen Ländern der Kampf gegen den Vietnamkrieg und der Antrieb, die Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte voranzubringen. Und natürlich der Sound der Musik die allen gemeinsam war. Von Bob Dylan, Joan Baez, den Beatles bis The Who gab es eine Musik, die das Lebensgefühl traf und ausdrückte. Erinnert sei etwa an "Respekt" von Aretha Franklin, "Revolution" von den Beatles oder "Street Fighting Man" von den Stones.
Sind die 68er beim Kampf gegen Geschichtsvergessenheit gescheitert, wenn Alexander Dobrindt ausgerechnet mit dem Namen einer antidemokratischen Bewegung der Weimarer Republik, der "Konservativen Revolution" noch mal gegen 68 antreten will? Das kann ich nicht ernst nehmen. Die CSU soll doch mal konkret sagen, welche Errungenschaften der damaligen Zeit sie zurückdrehen will. Sollen künftig Frauen wieder ihre Männer um Erlaubnis fragen müssen, ob sie arbeiten dürfen? Sollen Eltern und Lehrer Kinder wieder züchtigen dürfen? Soll der Zuhälterei angeklagt werden können, wer als Vermieter zulässt, dass erwachsene Mieter Damenbesuch haben? Das ist doch absurd. Dieser Vorstoß ist offensichtlich geboren aus dem konservativen Gefühl, es gäbe in den Medien eine Dominanz linker Meinungen. So richtig ich es finde, alles zu hinterfragen und gerade heute auch wieder eine radikale Änderung der Politik zu fordern. Die Regierungen scheinen unfähig, die Probleme bei uns, in Europa und der Welt zu lösen.
Welche Umbruchzeit hat Sie stärker geprägt, die Jahre als RAF-Anwalt von Andreas Baader oder die 21 Jahre im Deutschen Bundestag? Das kann man nicht vergleichen. Ich war gerne Abgeordneter, denke auch, dass ich einiges angestoßen habe. Ich hätte auch gern weitergemacht. Aber jetzt ist es an der Zeit, dem Körper Respekt zu zollen und kürzer zu treten. Die APO-Phase hat meine Tätigkeiten über Jahre sehr stark bestimmt - allerdings nicht so, wie es in der Öffentlichkeit dargestellt wurde. Ich war keineswegs nur Verteidiger von RAF-Leuten, war vielmehr auch Mitglied einer Anwaltskanzlei mit normalen Mandanten. Von RAF-Mandaten konnten wir nicht leben. Zudem hatte ich mich damals stark für die südamerikanischen Befreiungsbewegungen engagiert. Würden Sie meine Familie befragen, bekämen Sie wahrscheinlich zu hören, dass ich damals keinen Kopf hatte für Dinge, die nichts mit meinem Leben als linker Anwalt zu tun hatten.
Der RAF-Terror kam damals aus der Mitte der Gesellschaft, ausgeübt von den Söhnen und Töchtern des Bürgertums. Heute sagt man das auch vom Terror von rechts, etwa der NSU. Befürchten Sie angesichts einer zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft eine neue Terrorwelle, diesmal von rechts? Nein, das befürchte ich derzeit nicht. Zwar habe ich als Mitglied des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu den NSU-Morden in einen Abgrund völligen staatlichen Versagens geblickt. Diese Mordserie war nur möglich, weil bis zuletzt die Gefahr eines Rechts-Terrorismus geleugnet wurde. Von der Polizei, dem Verfassungsschutz bis hoch zur Regierung wollte man diese Gefahr nicht wahrhaben. Es herrschte in den Strafverfolgungsbehörden eine Art struktureller Rassismus vor, der dazu verleitete, bei Morden an Türken reflexartig in Richtung türkische Mafia zu recherchieren. Derzeit ist beinahe täglich rechte terroristische Gewalt zu erleben. Gelingt es nicht, eine linke Alternative zur Lösung all der Probleme zu definieren, an denen sich die Politik derzeit die Zähne ausbeißt, droht uns in Europa ein massiver Rechtsschwenk.
Zur Person
Hans-Christian Ströbele ist der einzige Grüne, der in seinem Bundestagswahlkreis ein Direktmandat erringen konnte. Durchaus auch gegen die eigene Partei: "Ich habe Plakate mit dem Spruch drucken lassen - "Ströbele wählen, heißt Fischer quälen". Aber das habe der Parteichef dem Parteilinken nicht übel genommen. 2017 trat Ströbele nach 21 Jahren im Bundestag nicht mehr an. Aus gutbürgerlichem Hause stammend, wurde Ströbele in der 68er-Bewegung politisiert. Ab 1970 verteidigte er RAF-Terroristen. Weil er mithalf, ein Informationssystem unter den in Einzelhaft isolierten Gefangenen aufzubauen, wurde er 1975 von der Verteidigung ausgeschlossen und 1980 wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
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