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Kommentar von Friedrich Roeingh zum Jahreswechsel

Mainz (ots)

Es gehörte wenig Fantasie dazu, dass die Zeitenwende als das Wort des Jahres ausgerufen wurde. Geholfen hat diese Entscheidung nicht. Wahrscheinlich hat sie eher die Einschätzung genährt, wir hätten unsere Hausaufgaben schon weitgehend erledigt. Schließlich hat Putin den Westen nicht gespalten. Schließlich hat Russland sämtliche Ziele seines Angriffskriegs gegen die Ukraine verfehlt. Schließlich scheinen Deutschland und Europa den Energiekrieg gegen den Westen - toi, toi, toi - ohne Blackouts überstehen zu können. Noch aber ist nichts gewonnen. Vor allem wird übersehen, dass uns die Zeitenwende viel mehr abverlangt, als die Bundeswehr wieder zur Landesverteidigung zu befähigen. Viel mehr abverlangt, als neue und in jedem Fall teurere Energiequellen zu erschließen. Viel mehr abverlangt, als dass der Staat die schlimmsten sozialen Verwerfungen durch immer neue Milliardenpakete abfedert. Kindische Kanzler-Vokabeln wie die vom Wumms und Doppel-Wumms sind Ausdruck davon, wie die politisch Verantwortlichen unbequemen, aber dringend notwendigen Grundsatzdebatten aus dem Weg gehen. Grundsätzliche Debatten müssen eben nicht nur über die so dringliche Ertüchtigung der Bundeswehr und Deutschlands Rolle in der Nato geführt werden. Viel dringlicher als bisher muss aufgearbeitet werden, wo wir noch unsere Infrastruktur vernachlässigt haben und unbequemen Reformen aus dem Weg gegangen sind. Es lief ja alles so schön mit dem sich mehrenden Wohlstand - wobei das billige russische Gas nur ein Faktor dieser Selbsttäuschung war. An anderen Stellen sind die politischen Versäumnisse längst sichtbar geworden. Die Vernachlässigung der maroden Verkehrsinfrastruktur - auf den Straßen wie auf den Schienen. Deutschlands Zurückfallen beim Ausbau der digitalen Infrastruktur, das international schon verlacht wird. Die Ablehnung von Zukunftstechnologien wie der Gentechnik, die nicht nur bei der Entwicklung von Impfstoffen, sondern auch bei der Welternährung mehr Chancen als Gefahren bietet. Der Bildungsnotstand, bei dem schon jedes fünfte Kind die Grundschule verlässt, ohne ordentlich lesen, schreiben und rechnen zu können. Die Bürokratie, besser: der politisch gewollte Genehmigungs- und Absicherungswahn, der jede Anpassung an sich rasant verändernde Realitäten praktisch unmöglich macht. Man mag meinen, das alles sei zu viel auf einmal, als dass es eine Regierung anpacken könnte. Dagegen steht die Erfahrung, dass offenbar nur in Krisen große Dinge bewegt werden können, die sonst zerredet werden. Dagegen steht die Erkenntnis, dass Deutschland mit dem Wegfall billiger Energie den Haupttreiber seines jüngsten wirtschaftlichen Erfolges unwiederbringlich verloren hat. Auch die Wachstumschancen, die in der Umstellung auf eine CO2-neutrale Wirtschaft liegen, werden die neuen Belastungen der Wirtschaft nicht wettmachen. Selbst wenn wir hoffentlich bald das Tal der Rezession verlassen können, werden uns die Arbeitskräfte fehlen und nicht mehr nur die Fachkräfte, um Wohlstandsverluste einfach wieder aufzuholen. Das Entscheidende: Bevor darüber gestritten wird, ob zum Beispiel der Bau von Straßen und Fabriken genauso beschleunigt werden soll wie hoffentlich bald der Bau von Schienenstrecken und Windrädern, ob Kernkraftwerke so lange weiterlaufen dürfen, wie das selbst Greta Thunberg für richtig hält, ob wir die Schaffung weiterer Freihandelszonen den Asiaten überlassen können, müssen wir uns grundsätzlich ehrlich machen. Ehrlich machen über den enormen Reformbedarf jenseits von äußerer Sicherheit und auskömmlicher Energieversorgung. Eine Debatte, die klarmachen würde, dass die Ampel in Berlin so etwas wie einen zweiten Koalitionsvertrag braucht. Eine Debatte, in der sich die Opposition als ebenso kreativer wie konstruktiver Treiber versteht. Und eine Debatte, in der Bund und Länder einen Weg finden müssen, gemeinsame Themen auch gemeinsam anzupacken. Das ist die Zeitenwende, die das Land im umfassenden Sinn dieses Wortes braucht.

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