Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) kommentiert zum Brüsseler EU-Gipfel:
Bielefeld (ots)
Nach 36 Stunden Beratungen, Kompromissangeboten, Vermittlungsversuchen und Vetodrohungen hat der EU-Gipfel doch noch die Grundlage für die überfällige Reform der EU-Institutionen geschaffen. Damit sind die Jahre der Erstarrung und Resignation in der Europäischen Union nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zum Verfassungsprojekt überwunden. Diese Einigung ist zweifellos ein Erfolg für Bundeskanzlerin Angela Merkel, die es verstanden hat, das Kompromisspapier für alle 27 Staaten zustimmungsfähig zu machen. Aber um welchen Preis? Selten sind bei einem EU-Gipfel nationale Interessen so hemmungslos ins Feld geführt worden wie jetzt in Brüssel. Besonders die Polen haben angesichts des Einigungsdrucks, der auf allen Beteiligten lastete, in einer Art und Weise, die an Erpressung grenzte, ihre Stimmgewichtung auf weitere Jahre erhalten. Die Kaczynski-Zwillinge hatten genau kalkuliert, dass Angela Merkel ihnen in der Nacht zum Samstag noch weiter entgegen kommen musste, um die Grundlage für die EU-Reform im Jahr 2009 noch zu retten. Dass die doppelte Mehrheit (55 Prozent der EU-Staaten und 65 Prozent der Bevölkerung), wenn auch mit Verspätung, kommt, ist ein echter Fortschritt. Damit wird es künftig unmöglich sein, dass ein Land damit drohen kann, die gesamte EU lahm zu legen, wie das Beispiel Polen zeigt. Damit wird auch der Möglichkeit ein Riegel vorgeschoben, dass ein Land die EU dazu nutzen kann, seine Blockade-Haltung erst gegen Höchstpreise aufzugeben. Feilschen und Schachern um Kompromisse gehörte jedoch schon immer zum Ritual von EU-Gipfeln. Zu diesen typischen EU-Kompromissformeln gehört das von allen mitgetragene Ausscheren der Briten bei der Grundrechte-Charta, die für sie nicht bindend sein wird, sowie die akzeptierte Bedingung der souveräniätsbewussten Briten, dass der künftige EU-Außenminister nur »Hoher Vertreter« heißen darf. Einen echten Fortschritt stellt auch die Einigung darüber da, dass die Geschicke der EU künftig für zweieinhalb Jahre von einem gewählten Präsidenten geführt werden. Die Weitergabe der Präsidentschaft jeweils nach sechs Monaten an ein anderes Land hat die Entwicklung der EU nicht gerade gefördert. Eine wesentliche Stärkung der Demokratie innerhalb der EU ist in der Tatsache zu sehen, dass das EU-Parlament künftig bei 90 Prozent der Gesetzgebung ein Mitentscheidungsrecht hat. Festzuhalten ist auch, dass mit der grundsätzlichen Einigung auf die Reform der Institutionen die EU nicht nur funktionsfähiger wird, sondern als politisches Schwergewicht auch weiterhin in globalen Fragen entscheidend mitreden kann. Ein Scheitern des Gipfels hätte die Union der 27 Staaten massiv beschädigt. Eine Zweiteilung hätte gedroht. So wäre es durchaus vorstellbar gewesen, dass die 18 Staaten, die die urspüngliche Verfassung bereits ratifiziert haben, weiter vorangeschritten wären. Die anderen EU-Staaten hätten hinterher hinken müssen.
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