Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) kommentiert:
Bielefeld (ots)
Die neuesten Zahlen der Unicef sind eine doppelte Ohrfeige - für die Industrieländer. Täglich sterben 1500 meist junge Mütter während der Schwangerschaft oder bei der Geburt und jedes Jahr vier Millionen Neugeborene in den ersten vier Wochen nach der Geburt. 99 Prozent der Todesfälle entfallen auf die Entwicklungsländer, insbesondere in Afrika und Südasien, und der Grund ist fast immer derselbe: Mangel an medizinischem Personal oder Material und natürlich auch an Aufklärung. Es ist eine Ohrfeige, weil mehr Medikamente und die Bereitstellung von Know-how eine Frage der Entwicklungshilfe und des guten Willens sind. Es ist eine zweite Ohrfeige, weil die Wirtschaft im vergreisenden Europa diese Absatzmärkte auf Dauer dringend braucht. Neunmalkluge halten dem zynisch entgegen: Bei der derzeitigen Überbevölkerung der Welt sei es gut, dass in Europa weniger Kinder geboren würden und dass die Geburten in den Entwicklungsländern zurückgingen. Der renommierte Demograph Herwig Birg aus Bielefeld hat dieses Argument einmal so bloßgestellt: Das sei so, als ob man mit einem Bein in einem Eimer voll heißen Wassers und mit dem anderen in einem mit eiskaltem Wasser stünde, insgesamt sei die Temperatur ausgeglichen, es sei dennoch kein angenehmes Gefühl. In der Tat, das alte Argument von der Überbevölkerung ist überholtes malthusianisches Denken. Der britische Gelehrte Malthus hatte vor 210 Jahren verkündet, die Ressourcen seien endlich und könnten die Menschheit deshalb nur begrenzt ernähren. Vor allem arme Völker sollten sich nicht vermehren, sie schmälerten mit hohen Geburtenraten den Wohlstand. Ein statisches, armseliges Bild vom Menschen. Von der Dynamik des Erfindergeistes, von der Zufuhr und Entdeckung neuer Energien, von der Kraft der Liebe (und des Teilens) keine Spur. Aber die Theorie hat manche Politiker vor allem im angelsächsischen Raum nachhaltig bewegt, das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern einzudämmen bis hin zu Zwangssterilisierungen. Obwohl Malthus längst überholt ist - schon vor ihm rechnete ein deutscher Demograph und wie Malthus evangelischer Theologe, Johann Peter Süßmilch, die Tragfähigkeit der Erde aus, ohne unumstößliche Thesen aufzustellen -, geblieben ist bis heute ein Achselzucken, wenn von Hunger und Tod in Afrika die Rede ist. Das ist unmenschlich und kurzsichtig. Man sollte die Zusammenhänge nicht vergessen. Zum Beispiel diesen: Entwicklungshilfe ist in der globalisierten, in dieser einen Welt auch Wirtschaftspolitik und Demographie ist ein geopolitischer Faktor. Das erfährt zurzeit in der Krise auch der Exportweltmeister Deutschland. Kleine Anmerkung: Im 50 Milliarden Euro schweren Konjunkturpaket II sind immerhin 100 Millionen für die Entwicklungszusammenarbeit reserviert. Das sind 0,2 Prozent. Selbst Trostpflaster sind größer.
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