Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum möglichen EU-Beitritt der Türkei
Bielefeld (ots)
Immer wenn der künftige EU-Beitritt der Türkei thematisiert wird, verbreiten sich Argwohn und Unbehagen. Die Beitrittsgegner befürchten, die Türkei werde die EU überlasten, den Islam exportieren und den Westen mit Millionen von Billigarbeitern überlaufen. Sie fordern die EU auf, die türkische Mitgliedschaft zu verhindern. Die Türkei, so meint zum Beispiel der Journalist Peter Scholl-Latour, gehöre nicht in den abendländischen Kulturkreis und somit nicht in die EU. Der avisierte Beitritt sei ein fataler Fehler. All diese Aufregung lässt vergessen, dass die Türkei noch lange nicht beitrittsfähig ist. Zwar will Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den EU-Beitritt möglichst bald erreichen, doch er steht erst am Anfang. So lange die Türkei die Beitrittskriterien der EU nicht erfüllt, darf sie nicht beitreten. Und diese Kriterien sind streng: Polygamie, Folter, Ehrenmorde, Einschränkungen der Pressefreiheit und Religionsfreiheit, Diskriminierung von Minderheiten, das türkische Nord-Zypern, Demokratiedefizite oder die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern werden von der EU nicht toleriert. Erdogan hat die Türkei auf einen revolutionären Reformkurs gebracht. Das Land ist im Aufbruch, es will sich Europa energisch anpassen: Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Folter verboten, Ehrenmorde für rechtswidrig erklärt, die Justiz reformiert, die Lage der Kurden verbessert und der Islamismus unterdrückt. Das Land krümmt sich, um beitrittsfähig zu werden. Dabei sprechen durchaus mehrere Gründe - zumindest langfristig - für den türkischen Beitritt: Eine moderne und demokratische Türkei könnte zum Vorbild für andere muslimische Länder werden und den Aufstieg der Fundamentalisten blockieren; geostrategisch würde die Türkei weiterhin zum Westen gehören, und zusätzlich könnte die dynamische türkische Wirtschaft den Handel mit der EU vertiefen. All das wäre im gegenseitigen Interesse. Zur »Überflutung« des Westens mit Billigarbeitern wird es nicht kommen, da die türkische Wirtschaft zum Beitrittstermin stark und robust sein müsste. Doch noch stellt sich die Beitrittsfrage nur im Konjunktiv. Erst zwei der 35 Verhandlungskapitel wurden bisher zwischen Brüssel und der Türkei abgeschlossen. 2009 kritisierte der EU-Fortschrittsbericht Defizite bei der Meinungs- und Pressefreiheit, bei Justizreform, Minderheitenschutz oder der Einschränkung von Gewalt gegen Frauen. Obendrein bedrohe die Macht des Militärs die Demokratie: In den vergangenen 40 Jahren hatte es immerhin drei Militärputsche gegeben. So lange Justiz- und Polizeiwillkür vorherrschen, kommt der Beitritt nicht in Frage; so lange der Völkermord an den Armeniern und die Einheit Zyperns Tabuthemen bleiben, ist Brüssel nicht zufrieden. Die Türkei muss sich noch sehr lange anstrengen. Sie mag auf dem Weg nach Europa sein, angekommen ist sie noch nicht.
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