Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Günter Grass
Bielefeld (ots)
Günter Grass äußert sein Unbehagen über das ungleich verteilte Gewicht der Kräfte im Nahen Osten. Prompt attackiert der Publizist Henryk M. Broder den Nobelpreisträger als »gebildeten Antisemiten«, der »schon immer ein Problem mit den Juden hatte«. Wunderbar: Das junge Jahr hat seinen ersten Skandal. Wäre der historische Hintergrund der Kontroverse nicht so finster, dürfte man Rede und Gegenrede, das Gedicht wie den Wutanfall, milde belächeln. Das Spiel ist ja hinlänglich bekannt. Pawlowsche Reflexe: Kaum läutet einer die israelkritische Glocke, beginnt der deutsche Oberlehrer zu geifern und schwingt die Antisemitismus-Keule. Wo aber der eine gelangweilt abwinkt, vertieft sich der andere in die Texte. Was allerdings keiner großen Anstrengung bedarf, denn allzu tief muss er nicht tauchen, dafür ist das Gewässer zu flach. Grass eröffnet sein Gedicht mit einigen kritischen Zeilen zum Krieg im Allgemeinen. Gebranntes Kind. Der Panzerschütze des letzten Aufgebots hat ja recht: Deutsche Soldaten haben nirgends in der Welt etwas zu suchen. Punkt. Deutsche Waffen ebenfalls nicht. Punkt. Auch nicht in Israel. Punkt. Dem knappen Plädoyer für die Fortsetzung der Politik ohne kriegerische Mittel folgt leider die typisch deutsche Nabelschau. 65 Zeilen Larmoyanz: Warum bloß habe ich geschwiegen? Tja, warum? Einst im Mai, in den flotten 60ern, haben Sie sich ja auch nicht das Maul verbieten lassen, Herr Grass. Mancher aber wird im Alter feige. Anders ist kaum zu erklären, warum sich der 84-Jährige ins Lyrische flüchtet. Sein Widersacher Broder hat recht: Das sind »brüchige Verse«. Eine Philippika gegen Berlin hingegen, ein Offener Brief an die Bundesregierung, politische Prosa, hätte den Dichterfürsten angreifbar gemacht. Erstaunlich: Da verschanzt sich ein wortgewaltiger Nobelpreisträger hinter der Kunst, weil sie alles darf. Volle Deckung. Die Gegenseite riskiert einen Blick: Kein Feind in Sicht. Man traut sich ins Freie. Trommelfeuer. »Logorrhoe!«, trompetet Broder, und das heißt: verbaler Durchfall, an dem allerdings der Trompeter ebenso leidet. Dass Broder Grass als Antisemiten brandmarkt, ist dürftig. Israel-Kritik und Antisemitismus sind zwei Paar Schuhe - Broder bekommt nicht einmal die Begrifflichkeit auf die Reihe. Dass er ungerührt behauptet, Grass habe seinen Dienst bei der Waffen-SS erst 2006 offenbart, ist falsch und wird auch durch stete Wiederholung nicht wahrer. Dass er Grass vorwirft, der wolle, Hand in Hand mit Teheran, den Staat Israel auslöschen, ist infam. Ein Gedicht gegen U-Boote? Zwar hat sich der Künstler ins Gespräch gebracht, sein Anliegen aber eigenhändig torpediert. Mit Hass gegen Lyrik? Der Feuilletonist hat seine Stimme erhoben, muss nun aber von Attacke zu Attacke lauter schreien, sonst hört man ihn eines Tages gar nicht mehr. Es beschleicht einen das ungute Gefühl: Deutschlands Intelligenz hat das Streiten verlernt.
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