Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum rot-grünen Koalitionsvertrag
Bielefeld (ots)
Jedes Kind weiß, dass große Sprünge mit leerem Beutel schwer möglich sind. Insofern ist der neue rot-grüne Koalitionsvertrag weniger ein Dokument der Enttäuschung als ein realistisches Bild des Machbaren. Genutzt wurde die Chance, den alten 92-seitigen Vertrag auf doppelt soviel Raum zu konkretisieren. Verpasst wurde die Gelegenheit, ein echtes Konsolidierungskonzept für ein hoch verschuldetes Land zu schaffen. Der in den letzten Tagen von Rot-Grün bewiesene unbedingte Einigungswille hätte zu mehr Unpopulärem genutzt werden können. Denn alles, was weh tut, kann nur zu Beginn einer Legislaturperiode durchgezogen werden oder gar nicht. Auch die Möglichkeit, den industriefeindlichen grünen Umweltminister Johannes Remmel zu entmachten, blieb ungenutzt. Warum also diese Eile, unbedingt in drei Wochen fertig werden zu wollen? Schließlich hätte die SPD (99 Mandate) auch mit der FDP (22 Mandate) die notwendige Mehrheit im Landtag (119 Mandate) herstellen können. Diese Karte wurde nicht gespielt, lag aber immer auf dem Tisch. Der wahre Grund dafür, dass Kraft nicht wirklich auf die Schuldenbremse tritt, ist das mangelndes Spar- und Konsolidierungsinteresse ihrer eigenen Partei. Den rigorosen Rüttgers-Kurs, der die Neuverschuldung 2008 schon einmal auf eine Milliarde Euro herunterzwang, fürchtet man bei den Roten wie der Teufel das Weihwasser. Dabei hätte bei den Beichtstuhlgesprächen in der Nacht zum Dienstag durchaus mehr Bußbereitschaft für frühere Ausgabesünden gezeigt werden können. Stattdessen schwärmte Hannelore Kraft gestern von sogenannten Präventionsrenditen - angebliche Einsparungen, die durch zuvor extra hohe Schulden entstehen sollen. Als Beispiel nannte sie die erwartete Einsparung von 500 Lehrerstellen an den Berufskollegs. Sylvia Löhrmann von den Grünen bezeichnete die Sache dagegen als das, was sie wirklich ist: »Demographiegewinne, die im System Schule bleiben«. Alter Wein in neuen Schläuchen ist auch der unvermindert von Berlin abhängig gemachte Vorschlag für eine Medizinische Fakultät in Bielefeld. Die praktische Ausbildung findet in der »Gesundheitsmodellregion Ostwestfalen-Lippe« statt. Theorie und Forschung bleiben in Bochum - welch peinliche Bauchpinselei! Das Projekt Nationalpark OWL bleibt Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) als Spielwiese erhalten. Auch hier haben sich die Sozialdemokraten weichklopfen lassen - gegen den Willen der Genossen aus OWL. Dieses Räppelchen für Remmel musste sein, damit wenigstens noch etwas sozialdemokratische Industriepolitik an der Ruhr möglich bleibt. Kraft hätte mehr Johannes-Rau-Politik haben können, ein harmloser Flirt mit der FDP hätte gereicht.
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