Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu unnötigen Operationen
Bielefeld (ots)
In vielen deutschen Kliniken wird die Zahl überflüssiger Eingriffe anscheinend immer größer. Das legt zumindest die Statistik nahe. 52 Prozent mehr Knieoperationen seit 2003 sprechen für sich. Viele Ärzte machen demografischen Wandel, medizinische Innovation und bessere Diagnostik dafür verantwortlich. Laut einer Studie des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kann das aber nicht sein. Die Zunahme von Operationen sei mit diesen Faktoren nicht begründbar. Auch immer mehr Mediziner zweifeln die Notwendigkeit vieler Eingriffe an. Das Problem ist erkannt, aber keineswegs gebannt. Es ist zwar ein positives Signal, dass nach einer Lösung gesucht wird. Schnellschüsse wie der jüngste Vorschlag des Spitzenverbandes und der AOK zielen allerdings ins Leere. Ein Zertifikatesystem in Kliniken würde das Problem nicht lösen. Statt überflüssige Eingriffe durch Reglementierung des Operationen-Kontingents zu verhindern, würde der Handel florieren. Was positiv klingt, ist im Gesundheitssektor fatal. Große Klinikverbünde würden nach Belieben schachern und kleinere Krankenhäuser hätten wenig Chancen. Und ganz nebenbei bauten die Krankenkassen ihre Macht aus. Um die Zahl unnötiger Operationen einzudämmen, müsste die Politik Mut beweisen und Bonuszahlungen von Klinikbetreibern an Chefärzte, die besonders viele lukrative Eingriffe machen, verbieten. Exakte Zielvereinbarungen stehen laut einer Studie der Unternehmensberatung Kienbaum in der Hälfte der neuen Chefarztverträge. Wer möchte schon der 150. Patient sein, wenn der Arzt bei 150 Knieoperationen einen dicken Bonus kassiert? Es sollte lieber Boni für mehr Qualität statt Quantität geben. Die Kassen täten gut daran, wirksame Systeme zu entwickeln, bei denen Kliniken, deren Patienten weniger Komplikationen nach Behandlungen haben, belohnt werden - eine Art Medizin-TÜV. Dabei muss der Patient ausschlaggebend sein. Aktuell wird mehr über Pauschalen, Fälle und Zeitkontingente gesprochen als über Patienten, geschweige denn Menschen. Die Gesellschaft muss sich fragen, wo sie mit ihrem Gesundheitssystem hin will. Mehr Geld wird es dafür nicht geben. Nur an der Stellschraube der Verteilung kann gedreht werden. Diese Frage wird aber nicht in mit Lobbyisten besetzten Ausschüssen beantwortet werden können. Dass diese ihre Interessen vertreten, ist durchaus verständlich. An einer Lösung dürfen aber nicht nur Experten arbeiten. Eine möglichst große Bandbreite der Gesellschaft gehört mit an den Tisch. Wer nun nach einem radikalen Schnitt mit staatlich reguliertem System ruft, das Operationen kontingentiert, sollte mit Blick nach Großbritannien von dieser Idee kuriert sein. Im Gegensatz zum deutschen ist das englische Gesundheitssystem in einem katastrophalen Zustand. Das ist Warnung genug.
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