Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu den Grünen
Bielefeld (ots)
Neulich noch standen sie Hand in Hand da: Claudia Roth und Sigmar Gabriel. Fast hätte man in diesem surrealen Moment meinen können, es passe kein Blatt Papier zwischen SPD und Grüne. Doch der schöne Schein zwischen den Lieblingskoalitionspartnern trügt. Eine Mehrheit im Bund ist für Rot-Grün nirgendwo in Sicht. So machen sich Nervosität und Misstrauen breit. Was, wenn es nicht reicht? Dann sind Alternativen gefragt. Dafür jedoch braucht es Anschlussfähigkeit. Genau darum geht es, wenn die Grünen an diesem Wochenende über ihr Wahlprogramm und speziell über ihre Steuerpolitik streiten. Treffender gesagt über ihre Steuererhöhungspolitik. Höherer Spitzensteuersatz, zeitlich befristete Vermögensabgabe, dauerhafte Vermögensteuer, deutlich höhere Erbschaftssteuer: Diese Pläne haben es in sich. Nimmt man hinzu, dass das Ehegattensplitting abgeschmolzen und die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung steigen soll, ist das Wort »Abgabenorgie« weit mehr als die übliche billige Polemik der politischen Gegner. Prompt kommt die lauteste Kritik derzeit aus den eigenen Reihen. Die alte Flügelteilung in Fundis und Realos erlebt eine Renaissance. Doch ist es nicht etwa Spitzenkandidatin 2 Katrin Göring-Eckardt, die das Korrektiv zu Spitzenkandidat 1 Jürgen Trittin bildet, sondern Baden-Württembergs populärer Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Es spricht Bände, dass ausgerechnet der einzige Regierungschef, den die Grünen zu bieten haben, den Grünen ins Gewissen zu reden versucht, die erst noch in die Regierung kommen wollen. Doch ficht Kretschmanns Forderung Trittin und Co. kaum an. Aus gutem Grund: Nach Banken-, Euro- und Elitenkrise haben der Frontmann und sein Führungskreis den Zeitgeist auf ihrer Seite. Hinzu kommt: Die Lage der Partei ist buchstäblich komfortabel. Die Grünen-Spitze kann sich ihre Steuerpläne auch deshalb leisten, weil sich der Grünen-Wähler im Schnitt mehr leisten kann und auch will. Ergänzt wird diese gönnerhafte Geste nach der Klimax »gerecht, selbstgerecht, grün« durch knallhartes Kalkül. Am Ende ist für die Steuerpolitik einer Regierung noch immer der größere Koalitionspartner weit stärker in Haftung genommen worden - und das werden die Grünen in keinem Fall sein, egal wie die Konstellation nach dem 22. September auch lauten mag. So wird vieles von dem, was der Parteitag bringt, Theaterdonner auf offener Bühne sein. Inklusive eines Rollenspiels, das jedem das bietet, was er hören will. Ja, es stimmt: Die Grünen sind momentan die ziemlich bestorganisierte Partei der Republik. Sie glänzen sogar noch im Streit. Und wenn Jürgen Trittin irgendwann nach der Bundestagswahl tatsächlich mit einem Koalitionspartner vor die Kameras treten sollte, hätte er sicher kein Problem damit, wenn das Angela Merkel wäre. Ob die Beiden sich dann an den Händen halten, ist freilich eine andere Frage.
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