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Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Erdogan

Bielefeld (ots)

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verkündete gestern den aufbegehrenden Regierungsgegnern das »Ende der Toleranz«. Das war gelogen: In Wahrheit hat es sie nie gegeben. Das einzige Einlenken seit Beginn der Unruhen vor elf Tagen war die leise Selbstkritik seines Stellvertreters Bülent Arinc. Außerdem: der Sturm auf den Taksim-Platz erfolgte gestern ziemlich genau 24 Stunden vor dem ersten direkten Gespräch mit den Gegnern des Bauprojekts im benachbarten Gezi-Park. Die Sache hat sich erledigt - erstickt in Tränengasschwaden und zertreten von Polizeistiefeln. Allein das beobachtbare Verhalten der türkischen Führung zeigt, was wirklich gespielt wird. Der Rest ist nicht nur Schönrednerei, sondern auch Hohn und Spott. Erdogan hat sich in den vergangenen Tagen mehrfach als Aufrührer, statt als weiser Führer erwiesen. Erdogan behauptet, Extremisten und internationale Finanzkreise steckten hinter den Protesten. Auch das ist hanebüchener Unsinn. Aber: Der Herr der Lüge stützt sich auf fast 50 Prozent der Wählerstimmen. Und: Erdogan will mehr - es geht um die Nachfolge von Staatspräsident Abdullah Gül im kommenden Jahr. Hier poliert einer sein Image als grausamer Sultan, den der Untertan nur fürchten oder lieben kann. Machen wir uns nichts vor: Volkes Stimme in der Türkei wünscht sich seit Tagen, dass die Polizei zurückschlägt. Das ist in Anatolien so, das gibt es überall in der arabischen Welt, und rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof soll der eine oder andere auch schon mal ein ähnliches Bauchgefühl verspürt haben. Es kommt darauf an, ob Politiker in solchen Situationen Öl ins Feuer gießen oder die Wogen glätten. Selbst wenn es keine Provokateure waren, die gestern aus den Reihen der Demonstranten heraus Brandflaschen warfen, muss ein demokratischer Rechtsstaat auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel achten. In der Türkei gelten solche Überlegungen als Schwäche. Dort wird in Kategorien von Ehre, Rache und Scharia gehandelt. Die Re-Islamisierung nach Kemal Atatürks Trennung von Moschee und Staat ist in vollem Gange. Deshalb kann Erdogan es sich leisten, seine Gegner völlig unnötig zu provozieren. Deshalb soll im Gezi-Park an der Stelle exakt jener osmanischen Festung gebaut werden, die gegen Ideen der Neuzeit am längsten Widerstand geleistet hat. Es geht um einen geistigen Brückenkopf der Gegner von Gleichheit, Brüderlichkeit (und zwar im Sinne der Frauen) und Freiheit. Man stelle sich vor, die Türkei wäre in ihrem Bemühen um den Beitritt zur Europäischen Union soweit wie inzwischen Kroatien, nämlich wenige Woche vor der feierlichen Aufnahme. Europas Beitrittsbefürworter wären blamiert. Aber Erdogan gäbe sich auch in einer solchen Situation gewiss nicht ein Deut zurückhaltender.

Pressekontakt:

Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261

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