Westfalen-Blatt: zum Schweizer Votum
Bielefeld (ots)
Verliert ein kleines Land mit acht Millionen Einwohnern seine Identität, wenn schon 23,3 Prozent der Bevölkerung Ausländer sind und ihr Anteil weiter steigen könnte? Diese Frage hat beim Schweizer Votum »Gegen Masseneinwanderung« eine wichtige Rolle gespielt. Mit 50,3 Prozent und nur 19 500 Stimmen Vorsprung ist die Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) hauchdünn angenommen worden. Die Wahlbeteiligung lag bei 56 Prozent. Ein Wert, der im Vergleich mit ähnlichen Abstimmungen durchaus hoch ist. Wer jetzt entsetzt auf das Ergebnis reagiert, sollte es genau betrachten. Denn auffällig sind beim kantonalen Abstimmungsverhalten die Unterschiede zwischen Stadt und Land. In Genf, Zug, Zürich und Basel-Stadt haben die Wähler gegen die SVP-Initiative gestimmt, in Appenzell, Uri, Schwyz und Basel-Landschaft dafür. Dort, wo ohnehin schon relativ wenige Ausländer leben, werden Fremde stärker abgelehnt als dort, wo mehr nicht-einheimische Menschen wohnen. Das ist bei uns in Deutschland und in ganz Europa nicht anders. Die Angst vor Überfremdung wäre derzeit wahrscheinlich in den meisten Ländern siegreich. Die Schweiz ist wirtschaftlich stark, bietet Wohlstand - und braucht Fachkräfte, um ihr Niveau zu halten. Deswegen haben die Eidgenossen im Jahr 2002 ein Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union (EU) geschlossen. Seitdem haben sich jährlich statt kalkulierter 10 000 etwa 80 000 EU-Bürger in der Schweiz angesiedelt. Das entspricht einem jährlichen Zuwachs einer Stadt der Größe St. Gallens - und sorgt für Staus und Wohnungsmangel. Nach den hunderttausenden Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien in den 90ern kommen seit zehn Jahren vor allem qualifizierte Arbeitsmigranten aus der EU in die Schweiz. Bei diesem Thema zeigt sich das Land gespalten. Nach dem Votum ist die Regierung in Bern gefordert, neue Regelungen mit der EU auszuhandeln. Drei Jahre hat sie dazu Zeit, und die Formulierungen in der SVP-Initiative geben einigen Spielraum. Insofern könnte man recht gelassen bleiben. Wäre da nicht die Europawahl am 25. Mai. Gut drei Monate vor der Abstimmung fallen die Reaktionen auf das Schweizer Votum in Brüssel und in den Hauptstädten der EU-Staaten zum Teil heftig aus. Die Sorge vor Erfolgen der rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien ist groß - und berechtigt. Zuwanderung könnte das entscheidende Thema sein. Die Umfragewerte für Front National (Frankreich) und UK Independence Party (Großbritannien) lassen zumindest darauf schließen, dass die Menschen in Europa weniger Zuwanderung wollen. Jetzt mit dem Finger auf die Schweiz zu zeigen, zielt in die falsche Richtung. Viele EU-Bürger sehen vor ihrer Haustür Probleme und verlangen von ihren Regierungen, dass diese Probleme gelöst werden.
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