Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Streitkultur
Bielefeld (ots)
Transsilvanien. Dracula. Hand aufs Herz: Über Rumänien wissen wir nicht so viel. Das ändert sich gerade. Rumänien ist Gastland der Buchmesse.
Varujan Vosganian, einst Minister in Bukarest, nun Schriftsteller, erzählt gerne von 1989, vom Ende des Ostblocks, als man in seiner Heimat dachte, in die Politik zu gehen wäre ein kulturelles Statement. Heute glaubt Vosganian, »Kunst und Politik gehen nicht zusammen«.
Jetzt würde man gerne entgegnen, ja, ihr in Ceausescus Ruinen seid eben traumatisiert, schaut mal her, wie schön wir in unserer funktionierenden Demokratie Literatur und Gesellschaft zusammenbringen. Aber aus dem Staatskundeseminar wird nichts, denn gerade wird das Leipziger Leseangebot zur Nebensache degradiert. Bei der Frankfurter Buchmesse 2017 holte man sich den Ärger selbst ins Haus, als man zu Aktionen gegen Rechts aufrief, und dann jammerte, als die Chaoten kamen. In Dresden klagte jetzt der Romancier Uwe Tellkamp, 95 Prozent der Flüchtlinge wollten bloß in unsere Sozialsysteme einwandern. Wer das aber ausspreche, werde aus dem schmalen Korridor der akzeptierten Ansichten geschubst - im Mainstream der Meinungen gehe die Meinungsfreiheit verloren. Suhrkamp, bei dem Tellkamp publiziert, flötete völlig verschreckt: »Kein Kommentar.«
Wutbürger hier, Leisetreter da. Also übernahm das weltweite Netz die Kommentarfunktion. Twitter und Facebook, die englischen Wörter für Feindschaft und Unkenntnis, brüllten, Suhrkamp solle Tellkamp feuern. Der Inkriminierte saß noch auf dem Podium, da hatte man ihm schon das Kainsmal »AfD« eingebrannt.
Warum nur gelingt uns keine Debatte mehr? Liegt's an unseren Volksvertretern? Wir hatten mal Politiker, die den Gegner attackieren konnten, ohne ihn zu vernichten, darunter die »größte parlamentarische Haubitze aller Zeiten« (Heiner Geißler über Herbert Wehner). Redner mit Finesse, hinter der - absolut entscheidend! - profunde Bildung aufschien. Vorbilder für den Disput im Alltag. Von uns gewählt! 1984, mit Joschka Fischers »Arschloch«-Invektive, begann die verbale Schussfahrt in die Jauchegrube, deren Talsohle wir längst erreicht haben.
Oder liegt's an der Schule? Oder, wie die letzten Analogapostel argwöhnen, am »System Internet«?
Mit Ausnahme strafbarer Parolen soll jede Ansicht frei bekundet sein. Wer anders denkt, soll offen widersprechen. Bitte keine anonyme Ausraste auf der Tastatur. Bitte kein öffentliches Wiederkäuen von Tweets. Dann erübrigt sich alles Gejammer über den Mainstream. Tellkamps Diskussionsgegner Durs Grünbein übrigens fragte sich, wo im Dresdener Talk die Kultur geblieben sei. Er fand, sie habe sich gleich zu Beginn davongeschlichen. Ob sie es noch bis nach Leipzig schafft?
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