WESTFALEN-BLATT: Kommentar zu Thüringen
Bielefeld (ots)
Wer glaubt, dass dieser Rücktritt freiwillig erfolgt, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Nein, der 24-Stunden-Ministerpräsident Thomas Kemmerich und seine Thüringer FDP haben erst auf den massiven Druck ihrer eigenen Bundespartei wie seitens der CDU/CSU reagiert und einen Antrag auf Auflösung des Landtags gestellt. Heißt also: Neuwahlen als Neuanfang!
Neuwahlen als Neuanfang? So einfach wird das nicht werden. Zu offensichtlich ist, dass es mehr um Schadensbegrenzung als um echte Überzeugung geht. Und die Notbremsung löst kein einziges strukturelles Problem. Thüringen bleibt ein besonderes politisches Pflaster, und daran wird sich bis zur vorgezogenen Landtagswahl wenig ändern. Im Gegenteil: Jüngste Umfragen deuten eher darauf hin, dass die Regierungsbildung danach noch komplizierter werden könnte. Hinzu kommt der bittere Beigeschmack, dass die Politik offenkundig unfähig war, etwas Konstruktives mit dem Wählerauftrag vom 27. Oktober 2019 anzufangen.
Tag 2 in Thüringen hat zudem eindrucksvoll dokumentiert, wie schlecht es um die einst führenden deutschen Parteien steht. Und nein, damit ist ausnahmsweise mal nicht die SPD gemeint. Da muss sich der Es-ist-besser-nicht-zu-regieren-als-schlecht-zu-regieren-Christian-Lindner von einem 1350 Mitglieder zählenden Landesverband am Nasenring durch die Manege führen lassen. Nun stellt er die Vertrauensfrage. Und egal, wie der FDP-Bundesvorstand antwortet: Die Liberalen haben den Liberalismus mit Füßen getreten. Die Partei droht sich ein zweites Mal selbst in den Abgrund zu reißen.
Und im Lager der CDU sieht es kaum besser aus. Offenkundig weit tiefer als bisher gedacht hat die AfD den Keil in die Partei der Christdemokraten getrieben. Der Unvereinbarkeitsbeschluss schert die Ostverbände wenig, und so schielen manche auf ganz Rechts, während andere gern mit ganz Links zusammenarbeiten würden. Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer machte erst gar keinen Hehl mehr daraus, dass es ihr zu keiner Phase gelungen ist, die thüringische CDU um Spitzenmann Mike Mohring auf Kurs zu halten. Durchsetzungsstärke sieht anders aus. Auch hier passt, was Angela Merkel, Bundeskanzlerin und Vorgängerin von AKK im Amt der Parteivorsitzenden, so knapp wie klar aus dem fernen Südafrika zu Protokoll gab: "Unverzeihlich!"
Die Tragikomödie von Thüringen hinterlässt viele Verlierer - in Erfurt wie in Berlin. Und sie ist nicht vorüber: Björn Höcke und seine AfD gehen jedenfalls gestärkt in die Neuwahl.
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