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WESTFALEN-BLATT: NRW lockert Corona-Testpflicht für Fleischindustrie - Kritik von Betrieben - Ärger wegen Testkosten

Bielefeld (ots)

Die NRW-Landesregierung hat die von der Fleischindustrie beklagte strenge Corona-Testpflicht gelockert. Betriebe können sich unter bestimmten Bedingungen nun komplett von der Testpflicht befreien lassen, berichtet das in Bielefeld erscheinende Westfalen-Blatt. Dafür muss eine Reihe an Vorgaben erfüllt sein - was zumindest in einem Punkt kaum machbar sei, kritisieren Unternehmen.

Nach den massenhaften Ansteckungen im Fleischkonzern Tönnies in Rheda-Wiedenbrück Mitte Juni mussten Firmen mit mehr als 100 Beschäftigten ihre Produktionsmitarbeiter bislang in der Regel zwei Mal pro Woche testen lassen. Ein Test gilt als ausreichend, wenn zuvor zwei negative Ergebnisse für alle Produktionsmitarbeiter vorlagen. Die am 29. August in Kraft getretene neue Landesverordnung sieht nun aber Ausnahmen vor.

Betriebe, die sich von der Testpflicht befreien wollen, müssen dies beim Arbeitsschutzdezernat der zuständigen Bezirksregierung anzeigen und die entsprechenden Schutzkonzepte einreichen. Als Voraussetung müssen mehrere Auflagen erfüllt werden: ein Mindestabstand von 1,50 Meter zwischen den Arbeitsplätzen, nicht mehr als 20 Prozent der eingesetzten Beschäftigten darf in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sein. Zudem dürfen Mitarbeiter, die fünf Tage oder länger nicht im Betrieb waren oder die Tätigkeit neu aufnehmen, nur mit einem maximal 48 Stunden alten Negativtest arbeiten. Die mittlere Raumtemperatur im Produktionsbereich muss über 10 Grad liegen, die mittlere Luftfeuchte zwischen 40 und 60 Prozent. Bei der Belüftung der Produktionshallen müsse zudem auf mehr als 50 Prozent an Frischluft zurückgegriffen werden. Und genau hier ist der Haken, sagt Dr. Ingmar Ingold, Geschäftsführer des Wurstwarenherstellers Wiltmann in Versmold (Kreis Gütersloh). "Einen Frischluftanteil von mindestens 50 Prozent zu fordern, ist illusorisch." Das leisteten auch andere Branchen mit Kühlketten nicht. "Der energetische Aufwand für das Konditionieren der Luft wäre enorm und von den meisten Anlagen gar nicht zu leisten."

Darüber hinaus können Firmen Ausnahmen von der Testpflicht beantragen, wenn die Risiken einer Verbreitung des Coronavirus durch Vorkehrungen wirksam ausgeschlossen werden könnten. "Dies ist durch eine gutachterliche Bewertung eines nicht in dem Betrieb angestellten Sachverständigen nachzuweisen", heißt es in der zunächst bis 30. September geltenden Verordnung des Landes.

Wiltmann werde den Dialog suchen, ob für bestimmte Bereiche der Produktion Ausnahmen oder geringere Auflagen möglich seien, sagt Ingold. Sein Unternehmen wolle aber aus Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern vorerst bei einer Testung pro Woche bleiben - trotz bisheriger "Kosten schon im deutlich sechsstelligen Bereich" für mehr als 8000 Tests, die allesamt negativ gewesen seien.

Die NRW-Landesregierung hält die Testpflicht für Mitarbeiter in der Fleischindustrie trotz der jüngsten Lockerungen grundsätzlich weiterhin für sinnvoll. Nach Angaben des Landes sind auf Basis der Reihenuntersuchungen für die Fleischindustrie von Ende Juni bis Ende August 175 positive Fälle erkannt worden. "Auch hierdurch konnten bisher weitere erhebliche Ausbruchsgeschehen in NRW vermieden werden," heißt es. Die positiven Befunde zeigten, dass die Testpflicht grundsätzlich weiterhin erforderlich sei.

Die mit der neuen Schutzverordnung erlassenen Lockerungen begründet das NRW-Gesundheitsministerium damit, dass die Behörden nun ausreichende Ressourcen hätten, "um einzelfallbezogene Befreiungen durch Prüfungen vor Ort zu kontrollieren und in Sonderfällen Ausnahmen zu bewilligen".

Wiltmann-Chef Ingold kritisiert indes das Land: "Es ist schlicht unbegreiflich, warum die Wurstherstellung weiterhin in einen Topf mit der Fleischgewinnung geworfen wird. Damit steht NRW im Übrigen alleine da, alle anderen Bundesländer verstehen es, zu differenzieren." Das Land habe faktisch eine Beweislastumkehr vollzogen. Die Wursthersteller stünden unter Generalverdacht und müssten belegen, dass das Risiko bei ihnen geringer ist als bei Schlacht- und Zerlegebetrieben. Ingold: "Die Produktions- und Arbeitsbedingungen, die klimatischen Bedingungen und auch die Mitarbeiterstruktur sind völlig anders."

In der nordrhein-westfälischen Fleischbranche ist der Unmut über die pauschale Testpflicht groß - nicht zuletzt, weil sie mit erheblichen Kosten für die Unternehmen verbunden ist. Beim Fleischkonzern Tönnies sind alleine am Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück seit der Wiederaufnahme des Betriebs Mitte Juli mehr als 85.000 Tests durchgeführt worden - sicherheitshalber seien die Mitarbeiter bislang drei Mal pro Woche getestet worden. "Die Kosten belaufen sich alleine hier auf rund zwei Millionen Euro im Monat", sagt Konzernsprecher André Vielstädte. In der letzten August-Woche seien von 13.466 Tests bei Mitarbeitern fünf positiv ausgefallen, nur ein Mitarbeiter sei neu positiv, sagt Vielstädte. Dies entspreche einer Quote von weniger als 0,01 Prozent. "Aus unserer Sicht stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit."

Die frühere Privatfleischerei Reinert in Versmold - heute Teil des fusionierten Unternehmens The Family Butchers (TFB) - hält die Testpflicht für Wursthersteller für überzogen. Das Unternehmen hat angekündigt, sich die Kosten von 20.000 Euro pro Woche, die direkt zulasten der ohnehin dünnen Marge gingen - vom Land erstatten lassen zu wollen. Es beschreite den Rechtsweg.

Was zudem für Verärgerung und aus Sicht der Unternehmen für Wettbewerbsverzerrung sorgt: Der nur zehn Kilometer entfernte Konkurrent Stockmeyer im Kreis Warendorf hat in erster Instanz per Eilantrag beim Verwaltungsgericht Münster erfolgreich gegen die Testpflicht geklagt. Das für die Firmen im Kreis Gütersloh zuständige zuständige Verwaltungsgericht Minden hat die Testpflicht dagegen als angemessen bewertet und Klagen mehrerer Firmen abgewiesen. Die Sache liegt nun beim Oberverwaltungsgericht Münster.

Pressekontakt:

Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261

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