Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Straßenkampf in Rostock
Bielefeld (ots)
Verkehrte Welt: 433 Polizisten sind in Rostock verletzt worden - und Politiker aller Parteien fordern, die Strategie der Deeskalation fortzusetzen. Dieter Wiefelspütz, der innenpolitische Experte der SPD, verstieg sich gestern sogar zu der Forderung, jetzt dürfe »kein weiteres Benzin ins Feuer gegossen werden«. Er wandte sich damit nicht etwa an die Gewalttäter. Nein, sein Appell ging an die Polizei! Deeskalation bedeutet: Einsatzkräfte treten nicht als schwer bewaffnete Staatsmacht auf, sie sind mit Demonstranten im Dialog, sie lösen Konflikte auf möglichst niedrigem Niveau. Dass dies kein Konzept ist, mit dem man autonomen Gewalttätern begegnen kann, leuchtet wahrscheinlich selbst Politikern ein. Aber noch mehr als Fernsehaufnahmen brennender Autos fürchten die Mandatsträger Bilder schlagstockschwingender Polizisten - auch wenn sich die Beamten nur zur Wehr setzen. Allein deshalb soll es bei der Deeskalations-Strategie bleiben. Selbst auf die Gefahr hin, dass vielleicht ein Polizist auf der Strecke bleibt. Mit ihrer weichen Linie verunsichern die Politiker jeden einzelnen der 16000 Polizisten, die rund um Heiligendamm eingesetzt sind. Anstatt den Männern und Frauen den Rücken zu stärken und sie aufzufordern, mit aller Härte gegen steinewerfende Gewalttäter vorzugehen, nimmt man ihnen sogar ihre Schutzschilde ab - damit ihr Auftritt nicht zu martialisch wirkt. Die Fürsorgepflicht des Staates seinen Beamten gegenüber - sie bleibt auf der Strecke. Der einzelne Polizist, der am zwölf Kilometer langen Schutzzaun Dienst schiebt, muss sich aber nicht nur von der Politik im Stich gelassen fühlen. Er hat auch allen Grund, an den Fähigkeiten der Einsatzleitung zu zweifeln. Nach 18 Monaten Vorbereitung hatte der Einsatzleiter kürzlich verkündet, man sei gewappnet und blicke den Demonstrationen entspannt entgegen. Am Samstag war niemand gewappnet und entspannt schon gar nicht. Unbehelligt hatten Autonome Bürgersteige und Straßen aufreißen können, um sich mit Pflastersteinen und Gehwegplatten zu bewaffnen. Da war niemand, der sie hinderte. Dass mehrere tausend Gewalttäter, von denen viele längst namentlich in Polizeicomputern erfasst sind, überhaupt nach Rostock gelangen konnten, ist auch der Einsatzleitung anzukreiden: Zu spät war begonnen worden, Autos auf dem Weg nach Rostock zu überprüfen, zu wenig Kontrollstellen wurden eingerichtet. Der Straßenkampf traf die Einsatzleitung so unvorbereitet, dass nordrhein-westfälische Polizisten, die in Lüneburg bei einer Neonazi-Demo eingesetzt waren, mit Blaulicht und Martinshorn nach Rostock verlegt werden mussten. Mit dem G8-Gipfel beginnt morgen für die Polizisten ein Eiertanz. Sie sollen das Treffen schützen, müssen sich schlecht ausgerüstet verteidigen und dürfen niemandem auf die Füße treten. Diese Strategie nach Samstag beibehalten zu müssen, wird manchen die Faust ballen lassen. Natürlich nur in der Tasche. Wegen der Deeskalation.
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