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Vom Öko-Saulus zum Öko-Paulus: Ostritz, Vorreiter am Rand der Republik
Ostdeutschland ist in der Krise - aber zwischen Görlitz und Zittau gibt es Hoffnung: die ökologische Modellstadt Ostritz

Ostritz (ots)

Minutenlang starrt Bernd Dittrich aus dem Fenster.
Nur einen Katzensprung von hier ist es passiert. Er sieht, wie dicke
Wolken aus Staub, Ruß und Schwefel gelb-giftig aus den gigantischen
Schloten von Hagenwerder und Hirschfelde quellen. 16 Tonnen sind es
aus Hagenwerder. Pro Stunde. Von Osten kommt dieselbe ätzende Fracht
aus dem polnischen Braunkohle-Großkraftwerk Turow. Mitten durch das
3.000-Seelen-Dorf Ostritz wabert die Neiße, ein ungenießbarer
Abwasser-Cocktail, zusammengemixt von der Textilindustrie flussauf-
und flussabwärts. Ungeklärte Altlasten, Waldsterben,
Luftverschmutzung: Lässt sich das irgendwo besser begreifen als hier,
am Zipfel von Sachsen?
Mit einem Ruck drückt Dittrich seinen Bürostuhl vom Schreibtisch
zurück. Reibt sich durch sein Gesicht, als wolle er einen Albtraum
verscheuchen. Hagenwerder, Hirschfelde? Historie! Ostritz, gelegen in
der Oberlausitz zwischen Görlitz und Zittau in Nachbarschaft zu Polen
und Tschechien, hat die Kurve gekriegt. Und der stille Bernd Dittrich
mit ihr. Bis zur Wende war er Ingenieur in Hagenwerder. Nun ist er
Herr über das Holz. In seinem Reich duftet es nach Sägespänen und
gehäckselten Tannen. Aus Wald macht Dittrich Wärme. Er ist Leiter des
Biomasse-Heizkraftwerks von Ostritz, das vom Öko-Saulus zum
Öko-Paulus bekehrt wurde.
Neubeginn im "Schwarzen Dreieck"
Einer der Missionare ist Günter Vallentin, 51 Jahre alt, hoch
aufgeschossen mit ruhigen braunen Augen hinter großen Brillengläsern.
Der Landrat von Löbau-Zittau ist nach der Wende Bürgermeister von
Ostritz. Es geht ihm wie vielen Ostritzern: Er hat die Nase voll von
der stinkenden Neiße, vom sauren Regen, von der schwarzen
Ascheschicht auf Haaren und Kleidung nach jedem Spaziergang, die so
schlecht wieder runter zu kriegen ist.
Die Öko-Wende beginnt für Ostritz Ende 1989 - und hat ihre
Schattenseiten. "Die ansässige Industrie hatte nach dem Zusammenbruch
der DDR keine Chance," sagt Vallentin. Zwei Jahre halten die Betriebe
unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft durch. Danach hat
Ostritz 450 Arbeitslose. Und nun? Die Bürger wollen ihre Stadt vom
Kopf auf die Füße stellen. Machen Pläne, wie Ostritz aussehen soll,
vom Kanalnetz bis zum Bebauungsplan. Auch eine Studie zum
Energiebedarf wird in Auftrag gegeben. Damit geht es los: Neubeginn
im so genannten "Schwarzen Dreieck".
Die von Schadstoffen geplagten Ostritzer beschließen, die alten
Staustufen der Neiße wieder zu aktivieren, um Strom zu erzeugen.
Damit kommt ein Stein ins Rollen. Wenn das Kloster Sankt Marienthal
in Ostritz, in dem seit über 770 Jahren Zisterzienserinnen leben,
einen ertragreichen Weinberg hat - dann muss ja wohl genügend Sonne
da sein, um Energie zu gewinnen. Und warum soll man nicht die
böhmische Brise und den nachwachsenden Rohstoff Holz nutzen, um
Ostritz Licht und Wärme zu geben?
Energie-Vorreiter Ostritz
Inzwischen versorgen vier Windräder, zwei Staustufen der Neiße,
unzählige Solardächer und ein Biomasse-Heizkraftwerk den Ort mit
Strom und Wärme aus erneuerbaren Energiequellen. Das Abwasser wird in
einer Pflanzenkläranlage auf einem Hügel über dem Kloster sauber. Der
Wald, der 1990 zu achtzig Prozent geschädigt war, ist aufgeforstet.
Selbst aus Pflanzenöl wird in Ostritz Strom.
Das Herz der energieökologischen Modellstadt schlägt in der Nähe
des Bahnhofs. Hier steht das Biomasse-Heizkraftwerk, aus dem die
Wärme durch Fernleitungen unter Asphalt und Pflastersteinen in die
Haushalte kriecht. Unscheinbar, klein und fast unecht: ein Kraftwerk
ohne Lärm und Dreck. Gerade mal drei Männer überwachen den Betrieb.
Holz hat Hochkonjunktur im Zittauer Gebirge. Die Forstwirte liefern
regelmäßig Abfälle, aus den Schreinereien und Sägewerken der Umgebung
kommen ganze LKW-Ladungen. "Bei der Verbrennung von Holz entsteht nur
so viel Kohlendioxid, wie die lebende Pflanze vorher gebunden hat",
sagt Leiter Bernd Dittrich. "Das ist ein ausgeklügelter Kreislauf auf
der Basis nachwachsender Rohstoffe." 270 Haushalten liefert das
Biomasse-Heizkraftwerk Wärme und Warmwasser. Neben den zwei
Holzkesselanlagen gibt es ein mit Pflanzenöl betriebenes
Blockheizkraftwerk und einen Ölkessel, der mit Heiz- oder Pflanzenöl
gefeuert wird und einspringt, falls das Holz mal nicht ausreicht.
Dittrichs Computer verrät auf einen Blick, falls es irgendwo in
der Stadt hakt. Doch bislang arbeitet das Bio-Kraftwerk mit seinen
Spezial-Filtern ohne größere Probleme. "Ohne die Unterstützung der
Deutschen Bundesstiftung Umwelt wäre das nicht möglich gewesen", sagt
Dittrich, "dafür sind Fernwärmeleitungen einfach zu teuer." Die
Osnabrücker Stiftung hat den Aufbau der energieökologischen
Modellstadt mit fast zwölf Millionen Euro unterstützt. Inzwischen
macht das Muster Schule; in der Umgebung wachsen nicht erst seit der
Teilnahme an der EXPO 2000 in Hannover Nachahmerprojekte heran.
Kreativität gegen die Krise
Dennoch: Ostritz ist noch nicht über den Berg. 120
Dauer-Arbeitsplätze haben der Ausbau zur Modellstadt und die
Einrichtung eines Internationalen Begegnungszentrums (IBZ) im Kloster
Sankt Marienthal gebracht, doch das reicht nicht. Tausend Menschen
sind seit 1990 aus Ostritz weggegangen, ein Viertel der Bevölkerung.
"Die Grundschule musste mangels Schülern geschlossen werden, nun ist
die Mittelschule in Gefahr", sagt Josefine Schmacht, auf deren
Visitenkarte "Ortschronistin von Ostritz" steht. Die Sorge ist ihr
anzusehen. Aber Ostritz wäre nicht Ostritz, wenn es sich so leicht
unterkriegen ließe. Gemeinsam mit der polnischen Nachbarstadt
jenseits der Neiße hat die Stadt ein Konzept für eine Grundschule
umgesetzt, an der deutsche und polnische Schüler gemeinsam lernen
sollen. Der Clou: Umweltschutz soll auf dem Stundenplan stehen. Einen
deutsch-polnischen Kindergarten gibt es schon. Damit der Weg von
hüben nach drüben künftig kürzer wird, läuft die Planung für einen
Brückenschlag über die Neiße.
"Wir sind auf kreative Lösungen angewiesen, um die massiven Folgen
von Geburtenrückgang und Abwanderung abzufedern", sagt Vallentin.
"Wir exerzieren im Schnelldurchlauf vor, was der deutschen
Gesellschaft insgesamt bevorsteht." Auch darin ist Ostritz Vorbild.
Doch alles Engagement der Bürger nütze nichts, wenn der Bund den
Kommunen enge Grenzen setze: "Hartz IV erwartet von jungen Leuten
bundesweite Flexibilität bei der Jobsuche", sagt der Landrat, "das
könnte sich wie ein Wegzugsprogramm auswirken."
Hoffen auf Tourismus
Trotz der hohen Arbeitslosigkeit sehnt sich kaum ein Ostritzer
nach Braunkohle und Textilindustrie zurück. "Wir haben die Eingriffe
in die Natur jeden Tag am eigenen Leib erlebt. Wir wollten endlich
eine bessere Lebensqualität", sagt Vallentin ernst. "Dass wir 1989
auch für Umweltschutz auf die Straße gegangen sind, wird heute oft
vergessen." Die Ostritzer hoffen auf Touristen. Inzwischen hat sich
herumgesprochen, dass es im Neißetal romantisch ist. Immer mehr
Radwanderer aus Deutschland, den Niederlanden oder Skandinavien
kommen hierher. 15.000 Übernachtungen verzeichnete allein das Kloster
Sankt Marienthal im vergangenen Jahr. Viele der Gäste kehren zurück:
In der Oberlausitz herrscht kontinentales Klima, die Sommer sind
warm, im Winter lockt der Schnee im Zittauer und im Isar-Gebirge zum
Skilaufen. Die typischen historischen Umgebindehäuser der Region
werden nach und nach auf Vordermann gebracht. Aus dem "Schwarzen
Dreieck" ist ein "Rotes" geworden: Achtung, hier geben sich Menschen
nicht auf. Kurz: Ostritz putzt sich heraus. Die Menschen hier geben
nicht auf.
Astrid Deilmann, DBU
Fotos zur kostenfreien Veröffentlichung unter www.dbu.de

Pressekontakt:

Franz-Georg Elpers
- Pressesprecher -
An der Bornau 2
49090 Osnabrück
Telefon: 0541|9633521
Telefax: 0541|9633198
presse@dbu.de
www.dbu.de

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