Wahlprognose zur Europawahl 2024
Rechte Parteien auf dem Vormarsch, Sitzmehrheit nur mit großer Koalition möglich
Hamburg (ots)
Die vermehrten Erfolge der politischen Rechten bei einer Reihe von nationalen Wahlen, hat viele Analysten dazu veranlasst, einen Rechtsruck bei den bevorstehenden Europawahlen vorauszusagen, die vom 6. bis 9. Juni 2024 abgehalten werden. Vor diesem Hintergrund hat Euronews das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Ipsos damit beauftragt, drei Monate vor den EU-Wahlen eine Prognose über die Zusammensetzung des nächsten Europäischen Parlaments zu erstellen, um ein klareres und objektiveres Bild der aktuellen Situation zu erhalten.
Es ist das erste Mal, dass eine Hochrechnung zur EU-Wahl auf der Grundlage von parallel durchgeführten nationalen Befragungen von ein und demselben Meinungsforschungsinstitut umgesetzt wurde. Hierfür hat Ipsos in den 18 bevölkerungsreichsten Ländern der Europäischen Union über 25.000 wahlberechtigte Personen zu ihrer Wahlabsicht befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ und bilden rund 96 Prozent der EU-Bevölkerung und 89 Prozent der Europaabgeordneten ab.
Zugewinne für rechte Fraktionen, aber keine populistische Welle
Die Wahlprognose zeigt, dass die beiden rechtspopulistischen bzw. nationalistischen Fraktionen nach aktuellem Stand an Boden gewinnen würden: Die Fraktion Identität und Demokratie (ID), zu der auch die AfD gehört, würde 81 Abgeordnete stellen (bislang 59). Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR), deren größte Partei bislang die polnische PiS ist, würde von 68 auf 76 Sitze anwachsen.
Insgesamt würden diese beiden rechten Fraktionen nun mehr als ein Fünftel (21,8 %) aller gewählten Abgeordneten des EU-Parlaments stellen, ein neuer Rekord: 2019 lag dieser Wert noch bei 18 Prozent, 2014 bei 15,7 Prozent, 2009 bei 11,8 Prozent und 2004 nur bei 8,7 Prozent. Trotz dieses deutlichen Anstiegs ist der rechte Flügel aber noch weit davon entfernt, das Europäische Parlament zu dominieren.
Die Zugewinne für die radikale Rechte hängen u. a. mit dem sehr guten Ergebnis des französischen Rassemblement National (28 Sitze, +10), dem Aufstieg der deutschen AfD (15 Abgeordnete, +6) und den Umfrageerfolgen von Geert Wilders PVV in den Niederlanden (9 Sitze, +9) zusammen. Der Stimmengewinn ist jedoch kein einheitliches Phänomen in ganz Europa. In Italien z. B. stagnieren die Rechten: Die Partei Fratelli d'Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni legt zwar stark zu (24 Sitze, +14), aber hauptsächlich auf Kosten der ebenfalls nationalistischen Lega von Matteo Salvini (7 Abgeordnete, -16). Und in Polen ist die PiS-Partei, die bei den Parlamentswahlen 2023 die Macht verloren hat, stark rückläufig (16 Sitze, -11).
Nur große Koalition würde Mehrheit im EU-Parlament erreichen
Der Vormarsch nationalistischer Parteien würde das Zentrum des nächsten Europäischen Parlaments zwar leicht nach rechts verschieben, aber das grundlegende Gleichgewicht nicht verändern. Nur eine große Koalition, bestehend aus Abgeordneten der bürgerlich-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der Sozialdemokraten (S&D) und der Fraktion "Renew Europe", die liberale und zentristische Parteien vereint, würde eine Mehrheit der Sitze gewinnen (398 von 720). Während die Werte für die EVP- (177 Sitze, -1) und S&D-Fraktion (136 Abgeordnete, -4) recht stabil sind, müssen die Liberalen mit starken Verlusten rechnen (85 Sitze, -17).
Die Fraktion der Grünen/EFA, die häufig den vom Parlament angenommenen Texten zustimmt, wird wahrscheinlich ebenfalls viele Sitze verlieren (55, -17) und würde damit ihr Rekordergebnis von 2019 nicht bestätigen.
Alternative Koalitionen wären wahrscheinlich nicht auf Dauer tragfähig. Eine Mitte-Rechts-Koalition (EVP, Renew, ECR) hätte mit nur 338 von 720 Abgeordneten keine Mehrheit im Europäischen Parlament. Eine Rechtskoalition (EVP, ID, ECR), würde laut Prognose 334 Sitze erhalten.
CDU/CSU als stärkste nationale Delegation gleichauf mit Le Pen
Die beiden traditionell größten Fraktionen im Europäischen Parlament, die EVP und die S&D, würden insgesamt nur 313 Abgeordnete (43,5 % der Gesamtzahl) stellen; der niedrigste Wert seit 1979. Obwohl die CDU/CSU-Gruppe mit 28 deutschen Europaabgeordneten weiterhin die stärkste nationale Delegation im nächsten EU-Parlament stellen könnte, liegt sie in der aktuellen Ipsos-Prognose inzwischen nur noch gleichauf mit dem französischen Rassemblement National. Bestätigt sich dieser Trend bei den Wahlen im Juni, könnte zum ersten Mal eine Rechtsaußenpartei die größte Delegation im Europäischen Parlament bilden.
Wahlprognose für Deutschland: Grüne verlieren, AfD und BSW legen zu
Der Blick auf die Wahlabsichten der deutschen Bevölkerung bei der Europawahl zeigt ebenfalls deutliche Verschiebungen. Die Union würde ihr Ergebnis vom Jahr 2019 mit 29 Prozent der Stimmen in etwa halten (28 Sitze, -1), ebenso wie die SPD, die bei 17 Prozent liegt und mit 16 Europaabgeordneten (±0) rechnen kann. Für die Grünen und die AfD würden sich 16 Prozent der Wahlberechtigten entscheiden, was jeweils 15 Sitzen im EU-Parlament entspricht. Während die Grünen jedoch 6 Sitze im Vergleich zur letzten EU-Wahl verlieren würden, gewinnt die AfD nach jetzigem Stand 4 Abgeordnete hinzu. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (7 %) würde aus dem Stand 7 Europaabgeordnete stellen. Die FDP (4 %) und die Linke (4 %) würden jeweils einen Sitz verlieren (4 Sitze, -1), während die Freien Wähler (3 %) mit 3 Abgeordneten vertreten wären (+1).
Methode
Die Ergebnisse stammen aus der Ipsos-Studie "A European election survey three months ahead of the June 2024 European elections", die zwischen dem 23. Februar und dem 05. März 2024 im Auftrag von Euronews durchgeführt wurde. Für die Befragung wurden in den 18 bevölkerungsreichsten EU-Ländern 25.916 Personen im wahlberechtigten Alter online oder telefonisch interviewt. In Deutschland wurden insgesamt 3.000 Wahlberechtigte befragt.
Die Stichproben der befragten Länder bilden etwa 96 Prozent der EU-Bevölkerung und 89 Prozent der Sitze im Europäischen Parlament ab (640 von 720). Die Repräsentativität der Stichproben wurde durch die Quotenmethode sichergestellt. In den anderen 9 Mitgliedsstaaten wurde die Prognose auf der Grundlage der verfügbaren Umfragen für die EU- und/oder Parlamentswahlen, der Ergebnisse früherer Europawahlen und der jüngsten Parlaments- und Kommunalwahlen sowie einer Analyse der politischen Lage in diesen Ländern erstellt.
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