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Literaturnobelpreisträgers Gao Xingjian zur Lage der Literatur in China

Hamburg (ots)

"Für mich muss ich sagen, dass ich weder in
politischer noch in literarischer Hinsicht einer Fraktion oder Schule
angehöre", schreibt Xingjian in einem Exklusiv-Essay in der jüngsten
Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT. "Ich ordne mich keiner Theorie
zu. Das Unglück der chinesischen Literatur besteht in solchen
Festlegungen, ganz zu schweigen von den vielen Richtlinien,
Parteilinien, Prinzipien, Normen, Vorbildern. Wer sich keiner
Strömung zuordnen lässt, gerät automatisch in die Kritik, wird
gesäubert, ausgeschlossen, zu Tode geprügelt, überwacht und
isoliert."
Dezidiert bekennt sich Xingjian in dem Essay "Das Absurde ist in
mir", seinem ersten großen Text in einer deutschen Zeitung, zur
gesellschaftskritischen Rolle der Literatur: "In Zeiten, da die
Ideologien vor unseren Augen zusammenbrechen, kann der Mensch seine
geistige Unabhängigkeit nur bewahren, wenn er sich zum Zweifel
bekennt. Meine Erfahrungen sagen mir, dass man alles, was dem
Massengeschmack entspricht, weder ernst nehmen noch glauben kann."
Daraus leitet sich für ihn die Position des Schriftstellers ab: "Nur
wenn sich der Schriftsteller der Gesellschaft entgegenstellt, mit
seiner eigenen Stimme zum Ausdruck bringt, glaube ich, dass diese
Stimme eine wirkliche Stimme ist." Gao beklagt die Theorielastigkeit
der westlichen Literatur in den letzten 20 Jahren: "Übermäßig" hätten
sich die Autoren der Form verschrieben. "Je mehr Form erneuert wurde,
umso mehr verlor man die Beziehung zur wirklichen Welt, und damit
verlor die Literatur immer mehr an Leben."
Unterdessen hat die Preisverleihung an Xingjian in der
Schriftstellerszene Pekings zu heftigen Debatten geführt. Jin
Jianfan, der kommunistische Parteisekretär des chinesischen
Schriftellerverbandes, sagte der ZEIT, die allgemeine Reaktion
bestünde nur aus "Verachtung". Die echte chinesische Literatur  würde
eben im Ausland nicht verstanden. Der junge Erfolgsschriftsteller
Ding Tian kritisiert gegenüber der ZEIT Xingjian aus einem anderen
Grund: Er sei ein durch und durch politischer Schriftsteller, dessen
starrer Bewusstseinsstrom nicht zu den Gefühlen der Menschen
vordringe. "Peinlicher wäre nur gewesen, wenn die Nobeljury
denjenigen geehrt hätte, den der chinesische Schriftstellerverband
für den Besten hält."
Ding Tians Entdecker dagegen, der Schriftsteller Xu Xing,
vergleicht im Gespräch mit der ZEIT die Wirkung des Nobelpreisträgers
im postmaoistischen China mit der von Wolfgang Borchert im
Nachkriegsdeutschland. Xing kritisiert die Oberflächlichkeit der
zeitgenössischen chinesischen Literatur: "Sie sucht den schnellen
kommerziellen Erfolg. Den gerade populären Schriftstellerinnen macht
es nichts aus, ihr Hemd aufzuknöpfen, damit die Sichuaner einen
Shanghaier Busen sehen."
PRESSE-Vorabmeldung aus der ZEIT Nr. 43/2000 mit Erstverkaufstag
am Donnerstag, 19. Oktober 2000 ist unter Quellen-Nennung DIE ZEIT
zur Veröffentlichung frei. Der Wortlaut des ZEIT-Beitrages kann
angefordert werden.
Für Rückfragen steht Ihnen das Team der ZEIT-Presse- und Public
Relations Elke Bunse (Tel. 040/ 3280-217, Fax -558, e-mail: 
bunse@zeit.de) und Victoria Johst (Tel. 040/3280-303, Fax-570,
e-mail:  johst@zeit.de) gern zur Verfügung.

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