Mafia-Jäger Orlando: Berlusconi beugt das Recht
Hamburg (ots)
Schwere Vorwürfe gegen den italienischen Staatspräsidenten Silvio Berlusconi erhebt der Mafiajäger Leoluca Orlando. "Berlusconi beugt das Recht und manipuliert es zu seinen Gunsten", sagt der 55jährige Rechtswissenschaftler in der ZEIT. In Italien kenne der Kapitalismus bald keine Gesetze mehr, klagt der frühere Oberbürgermeister von Palermo und Gründer der Bürgerbewegung und Antimafia La Rete. Nicht nur Sizilien sei in den neunziger Jahren ein Modell für den Kampf gegen die Mafia geworden, "ganz Italien stand für die konsequente Bekämpfung der Korruption ... Das ist vorbei."
Orlando, heute Mitglied des Europarates, fordert die Europäer und ganz besonders die "Euro-Banker in Frankfurt" auf, Druck auszuüben und zu sagen: "Ohne Rechtsstaat machen wir mit Euch keine Geschäfte." An seine Landsleute appelliert er: "In ganz Italien muss sich die Bevölkerung ihrer kulturellen Wurzeln besinnen und sich wehren gegen die Korruption."
Jahrelang stand Orlando auf der Todesliste der Mafia - "Ich lebte versteckt, bis heute bin ich kaum ohne Leibwächter unterwegs."
Den kompletten ZEIT-Beitrag (ZEIT Nr. 2 EVT 2. Januar 2003) finden Sie im Anhang.
Für Rückfragen melden Sie sich bitte ab 2. Januar 2003 bei Elke Bunse, DIE ZEIT Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Tel.: 040/ 3280-217, Fax: 040/3280-558, E-mail: bunse@zeit.de.
Leoluca Orlando, Rechtswissenschaftler und Mitglied im Europarat, träumt im LEBEN der ZEIT
Eines Tages mit Recht sagen zu können: »Ich bin stolz, ein Sizilianer zu sein« - dieser Traum war ein Leben lang mein tiefster Antrieb. Ich habe dafür gekämpft, bis er Wirklichkeit geworden ist. Doch heute, in Berlusconis Italien, ist mein Traum wieder bedroht.Ich weiß noch, wie ich 1968 zum Studium nach Heidelberg kam. Damals fragten mich alle Kommilitonen: Woher kommst du? »Aus Sizilien«. Worauf jedes Mal die gleiche Erwiderung folgte: Aha, die Mafia! Heute hingegen fällt den Leuten, die mich sehen, sofort die Antimafia ein, die Bürgerbewegung La Rete, die ich 1993 gründete und die die Cosa Nostra erfolgreich bekämpft hat.Die tiefere Bedeutung meines Traums: Ich wollte beweisen, dass das, was die Mafia auf Sizilien angerichtet hat und noch immer anrichtet, nicht sizilianisch ist, sondern menschlich. Jede Kultur läuft das Risiko, dass ihre positiven Werte missbraucht werden; sie können sich dann in »satanische Verse« verwandeln. Jeder ist verpflichtet, dieser Gefahr gegenüber wachsam zu bleiben. So hat die Mafia im Namen der Ehre, der Freundschaft und der Familie Menschen getötet, Recht und Freiheit zerstört. Sie hat unsere eigenen Werte gegen uns gerichtet: Aus Ehre wurde Schande, aus Freundschaft eine Abhängigkeit, die sich auf Kriminalität gründete. Anderswo sind die Menschenrechte für Reichtum, Erfolg oder Sicherheit mit Füßen getreten worden. Auch das Lied der Freiheit und des Rechts kann man mit satanischen Versen singen, auch sie lassen sich pervertieren. Als Student war mir der traditionell hohe Respekt vor dem Gesetz in Deutschland unendlich wichtig. Es war mein Ideal, das Positive an meiner sizilianischen Identität mit dieser positiven Seite der deutschen Identität zu verbinden und zu Hause für den Rechtsstaat zu kämpfen. Aber gerade in Deutschland ist der Willen, Gesetze zu befolgen, umgeschlagen in die Verfolgung der Juden; haben die Nazis gezeigt, dass sich Gesetze und Gesetzestreue gegen die Menschenrechte wenden können. Der Nationalsozialismus war für die deutsche Kultur, was die Mafia für Sizilien ist und die al-Qaida für manche islamische Länder. Diese Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur diskutiere ich heute mit Menschen in der ganzen Welt, in Kolumbien, Nigeria oder Georgien. Für meine Freunde in Heidelberg bedeuteten Sizilien und die Mafia das Gleiche. Aber heute ist immer mehr Menschen bewusst, dass die sizilianische Mafia nur eine Spielart der Gattung Mafia ist, neben der russischen, der amerikanischen oder japanischen Mafia, die die jeweilige Kultur für ihre Zwecke ausbeuten. Deshalb ist es so wichtig, die Verschiedenheit der Identitäten zu respektieren. Ohne diesen Respekt wird auch der Versuch einer globalen Gesetzgebung scheitern. Wir brauchen ein international gemeinsames Recht - aber zugleich die kulturelle Vielfalt und gegenseitiges Verständnis. Sonst wird es nicht nur einen Osama bin Laden geben, sondern viele - auch einen sizilianischen, einen korsischen, baskischen ... Ein zentrales Bild in meinem Traum ist der sizilianische Karren. Hölzern, bunt bemalt mit vielen Figuren, auf zwei Rädern. Ein Rad steht für das Recht, das andere für die Kultur. Jeder Mensch muss seine Kultur und damit seine Identität kennen und achten, damit er auch bereit ist, sie gegen Missbrauch zu verteidigen. Mit Kultur meine ich nicht nur Musik, Literatur oder Theater, sondern zugleich ein Bewusstsein dafür, dass man in eine gemeinsame Vergangenheit eingebunden ist und eine gemeinsame Vorstellung von Zukunft entwickeln kann. Also ein Zeitgefühl. Als Bürgermeister von Palermo ließ ich die Theater, Kirchen und Museen restaurieren, die unter dem alles beherrschenden, korrupten Einfluss der Mafia verkommen waren, und für die Bewohner der Stadt öffnen: Damit die Palermitaner sich wieder mit ihrer Geschichte identifizieren konnten.In einem Film habe ich einmal einen Uhrmacher gespielt. Auf einer hohen Leiter stehend, musste ich die alte Rathausuhr reparieren. Am Anfang hatte diese riesige Uhr überhaupt keine Zeiger. Die brauchten wir damals wirklich nicht in Palermo, denn es gab keinen Respekt vor der Vergangenheit und keine Hoffnung für die Zukunft. Auf Sizilien war die Vergangenheit Schande und die Zukunft ungewiss. Alles war ewige Gegenwart. Und in ewiger Gegenwart werden wir Menschen gewalttätig: Dann wird jeder kleine Sieg gleich ein Triumph und jede noch so kleine Niederlage ein Totschlag. Wenn ich aber eine Zukunft habe und eine Vergangenheit, dann kann ich mich beispielsweise daran erinnern, dass ich meinen momentanen Gegner auch schon einmal freundlich erlebt habe oder dass ich es war, der ihn zuvor gereizt hat. Oder ich schicke ihm einen Brief, auf den er dann irgendwann reagieren kann. Ich muss nicht gleich zuschlagen. Das Erste, was geschehen musste, damit ich an der Verwirklichung meines Traums arbeiten konnte, war, das Wort »Mafia« zu entdecken. 13 Jahre lang habe ich die berühmteste Jesuitenschule im Land besucht, aber nie, nicht ein einziges Mal wurde dieses Wort ausgesprochen. Nach dem Motto: "Was nicht benannt wird, das gibt es nicht." Als Erstes musste das Schweigen gebrochen werden: Als ich mit Studenten ein Seminar Gegen die Mafia organisierte, war das ein großer Skandal! Und dann musst du viel Liebe in dir tragen. Liebe zu dir selbst, zu deinem Land, deiner Kultur, deiner Familie. Ohne Liebe bleibt ein Traum für immer ein Traum. Erst danach kommen Strategie, Finanzen, Verbündete und all die anderen wichtigen Mittel zum Ziel. Unser größter Feind ist der Satz: »Ist mir doch egal.« Auch gegen die Gleichgültigkeit sind Liebe und Enthusiasmus die einzigen Waffen. Warum wird in der Politik nie über Liebe gesprochen? Ohne Liebe wäre mein Traum ein Angsttraum geworden. Manchmal war es kurz davor. Immer wenn ich müde wurde und mich fragte: Warum soll gerade ich ununterbrochen die Kraft aufbringen, gegen die Mafia Widerstand zu leisten? Die Mafia ist nichts Abstraktes, das sind konkrete Männer, und wenn ich sehr erschöpft war, dann habe ich meinen Traum verloren: dass auch diese Kriminellen Menschen sind, fähig, sich zu verändern. Das müssen wir immer wieder sehen, wenn wir gegen etwas scheinbar Abstraktes kämpfen: Wenn wir einen Gegner überhöhen, dann glauben wir schon nicht mehr daran, dass eine Veränderung möglich ist. Es gibt ein Sprichwort auf Sizilien: »Wer rund geboren ist, der kann nicht viereckig sterben.« Das ist nicht wahr. Mein Traum ist, dass das nicht wahr ist. Hätte ich ihn jemals aufgegeben, dann hätte ich nur noch Angstträume. Angst hatte ich natürlich sehr oft. Immer wenn mir klar wurde, dass ich nach den Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino als Nächster auf der Todesliste stand. Ich lebte versteckt, bis heute bin ich kaum ohne Leibwächter unterwegs. Aber nicht nur den Carabinieri, die mich beschützten, habe ich zu danken. Dass die Cosa Nostra mich umbringen wollte, war ganz offiziell in der Zeitung angekündigt. Da sind die Frauen von Palermo zur Polizei gegangen und haben eine Liste mit den Namen vieler Kinder abgegeben; eines dieser Kinder sollte ich bei allen meinen Fahrten im gepanzerten Dienstwagen mitnehmen. Natürlich habe ich das nie getan. Aber diese Aktion ihrer Frauen machte den Mafiosi Angst. Wirklich geschockt waren sie, als sie sahen, dass ich durch Liebe geschützt war. Heute muss ich darauf hoffen, dass Europa genug Liebe für Italien aufbringt. Denn heute droht unser Traum vom Rechtsstaat sich wieder in einen Angsttraum zu verwandeln. Berlusconi beugt das Recht und manipuliert es zu seinen Gunsten; in Italien kennt der Kapitalismus bald keine Gesetze mehr. Dort kann der Minister, der für die Vergabe fast aller öffentlichen Aufträge in Italien zuständig ist, die Ansicht vertreten, es könne durchaus notwendig sein, mit der Mafia zu leben. Ein Minister! Stellen Sie sich das mal in Deutschland vor! Nach 1992 war nicht nur Sizilien ein Modell für den Kampf gegen die Mafia geworden, sondern ganz Italien stand für die konsequente Bekämpfung der Korruption. Wir waren ein Modell für ganz Europa, im Europaparlament akzeptierte man viele meiner Vorschläge. Das ist vorbei. Gerade auf Sizilien droht ein Wideraufleben der alten Missstände und ein Rückfall in die einstige Gewaltherrschaft der Mafia. Für mich ist das schwer zu ertragen.Ich hoffe darauf, dass die Europäer, und ganz besonders die Euro-Banker in Frankfurt, Druck ausüben und sagen: Ohne Rechtsstaat machen wir mit euch keine Geschäfte. Aber vor allem muss in Italien passieren, was wir damals auf Sizilien geschafft haben. In ganz Italien muss sich die Bevölkerung ihrer kulturellen Wurzeln besinnen und sich wehren gegen die Korruption.Diesen Traum möchte ich mit meinem Leben bekräftigen. Und wenn dieser Traum lebendig bleibt, dann wird er vielleicht auch noch andere Träume beflügeln.
Leoluca Orlando, 55 Jahre alt und Rechtswissenschaftler, war von 1985 bis 2000 Oberbürgermeister in Palermo; erst als Mitglied der Democrazia Cristiana, seit 1993 für seine eigene Partei La Rete. Mit seinem mutigen und erfolgreichen Kampf gegen Korruption und Verbrechen der Mafia - um den Preis eines Lebens unter Polizeischutz - wurde Orlando international bekannt. Heute ist er Präsident der Kulturstiftung The Sicilian Renaissance Institute und Mitglied des Europarats. Im Herder Verlag erschien soeben seine Biografie »Ich sollte der nächste sein«. Orlando wünscht sich in seinem Traum, dass der Rechtsstaat in Italien nicht wieder zerfällt
Von Christiane Grefe
DIE ZEIT Nr. 2 vom 2. Januar 2003
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