Heiner Geißler: "Sozialdemokraten sind zu Marktfetischisten geworden"
Hamburg (ots)
"Wer Macht ausübt, geht über Leichen und möchte sich nicht daran erinnern lassen, dass es auch ethische Postulate gibt. Aber eine Politik ohne moralisches Fundament läuft in die Irre," sagt Heiner Geißler in der ZEIT.
Für Geisler, der ursprünglich Jesuit werden wollte, ist das "tragende Element einer Gesellschaft nicht mehr die Solidarität, sondern das Prinzip: Jeder kümmere sich um sich selber". Dies führe "innenpolitisch zu einer Egoistengesellschaft und global gesehen zu mehr Osama bin Ladens, zu hundert Millionen ausgegrenzten, ins Abseits geratenen Menschen. In einer Demokratie hat jeder wenigstens eine Stimme, in den anderen Staaten besorgen sie sich eben Waffen - und wenn es fliegende Kerosinbomben sind."
Für den CDU-Politiker sind die Sozialdemokraten "leider ein Totalausfall. Sie müssten das Widerlager gegen die Neoliberalen bilden, sind aber selbst zu Marktfetischisten geworden. Und die Grünen wollen das Erbe der Liberalen antreten." Geißler würde, wenn er heute 20 Jahre alt wäre, gerne "bei Attac, bei amnesty international, bei Greenpeace, bei Rupert Neudeck" mitmachen.
Die Würde des Menschen ist in Gott verankert
Ein ZEIT-Gespräch mit Heiner Geißler über die Botschaft des Evangeliums, über Angela Merkel und das C in der CDU
DIE ZEIT: Herr Geißler, warum interessieren Sie sich für Jesus?
Heiner Geissler: Ich wollte ursprünglich Jesuit werden, Priester. Ich war begeistert, wollte die Welt verändern und Bedeutendes tun und bin in den Orden eingetreten. Ich habe das Noviziat beendet und die ewigen Gelübde abgelegt: Armut, Keuschheit, Gehorsam. Von den drei Gelübden habe ich zwei nicht gut halten können, nur die Armut fiel mir relativ leicht. Also bin ich ausgetreten, die Faszination des Evangeliums ist mir aber geblieben.
ZEIT: Auch später, als Sie Generalsekretär der CDU waren?
Geissler: Da musste ich mich mit dem C in unserem Parteinamen beschäftigen. Als Richard von Weizsäcker und ich 1978 das erste Grundsatzprogramm der CDU entworfen haben, schrieben wir ungewöhnliche Dinge hinein. Das Evangelium gibt uns ein Bild vom Menschen, dessen Würde unabhängig ist von Rasse, Glauben oder Geschlecht. Also schrieben wir: Dieses Menschenbild ist Grundlage der Politik der CDU.
ZEIT: Haben Sie das Buch Was würde Jesus heute sagen? für die CDU geschrieben?
Geissler: Nein.
ZEIT: Warum haben Sie es dann geschrieben?
Geissler: Weil der politische Inhalt der Botschaft mich immer mehr interessiert. Und weil es noch kein leicht lesbares Buch gibt, in dem man etwas über die politische Dimension des Evangeliums erfährt. Außerdem finde ich erstaunlich, wer sich alles auf die Bibel beruft: Leute wie George W. Bush. Er hält vor den Kabinettssitzungen Bibellesungen im Weißen Haus ab - allerdings wird da fast nur aus dem Alten Testament vorgetragen. Für die christlichen Fundamentalisten, zu denen Bush ja gehört, gibt das Neue Testament wenig her. Fundamentalisten gibt es aber bei uns auch. Denken Sie nur an den Streit um die Kreuze in den Schulzimmern, davon hing ja für einige Leute das christliche Abendland ab. Aber ist denn nicht viel wichtiger die Frage: Was würde der, der am Kreuz hängt, heute sagen? Würde er sagen: "Das Boot ist voll"? Oder: "Deutschland den Deutschen"?
ZEIT: Finden Sie nicht, dass der Anspruch Ihres Buches eine Anmaßung ist? Immerhin soll Jesus ja Gottes Sohn gewesen sein. Wie wollen Sie wissen, was der heute dächte?
Geissler: Ich halte mich an den Kern dessen, was er im Neuen Testament gesagt hat. Und Aufklärung im Sinne Kants bedeutet ja wohl auch, jederzeit selbstständig lesen zu können - auch das Evangelium.
ZEIT: Das nennt man auch Priestertum aller Gläubigen, und es ist eine zutiefst protestantische Haltung. Warum sind Sie eigentlich noch Katholik?
Geissler: Jeder intelligente Katholik ist im Inneren irgendwie auch Protestant. Die Nachfolgeorganisation der Inquisition, die Glaubenskongregation unter Kardinal Ratzinger, kann ja wohl nicht der Maßstab des Glaubens sein ... Übrigens haben wir damals auch die Luthersche Rechtfertigungslehre mit ins CDU-Grundsatzprogramm gepackt: Die Würde des Menschen ist unabhängig vom Urteil anderer Menschen, weil sie in Gott verankert ist. Egal, ob du im Abitur durchgefallen oder straffällig geworden bist. Auf das Urteil anderer kommt's nicht an. Das ist eine befreiende Botschaft.
ZEIT: In Ihrem Buch geht es viel um die Grausamkeiten in der Welt und wie der Christ darauf reagieren sollte. Sind diese Grausamkeiten nicht immer auch das beste Argument gegen den lieben
Gott des Christentums?
Geissler: Gibt es Gott nach Auschwitz? Aber ich schreibe nicht darüber, wer oder wo Gott ist, sondern über Jesus, der sagt, wie eine bessere Welt aussieht.
ZEIT: Sie meinen, die Botschaft gilt auch ohne Gott?
Geissler: Ja. Aber sie kann zu Gott führen und als Dokument der Menschenliebe, als Anweisung, wie Menschen miteinander umgehen sollen, auch für Atheisten überzeugend sein.
ZEIT: Aber es sind doch Christen, die die Welt beherrschen. Christen führen wieder Krieg im Namen Gottes - hat das Evangelium die Welt in 2000 Jahren wirklich besser gemacht?
Geissler: Natürlich. Trotz der Irrungen der Theologie und des Missbrauchs durch viele Pseudochristen: Der Mensch ist frei geworden. Die abendländische Philosophie, der wissenschaftliche Fortschritt des Westens, die Unabhängigkeitserklärung in den USA, die Französische Revolution mit ihren Grundwerten, unsere Verfassung, die freie Stellung der Frau - all das ist ohne die christliche Botschaft nicht denkbar. Sie hat die Unantastbarkeit der menschlichen Würde in die Welt gebracht, auch wenn diese Würde immer wieder mit Füßen getreten wird.
ZEIT: Lieben Sie Ihre Feinde?
Geissler: Das muss ich nicht, ich muss ihnen aber helfen, wenn sie in Not sind.
ZEIT: Würden Sie Helmut Kohl helfen?
Geissler: Sofort. Aber nur, wenn er in Not wäre. Das meint die Feindesliebe: Ich muss nicht die ganze Welt lieben, weder Berlusconi noch Bush. Mir wird schon schlecht bei der Vorstellung, ich müsste alle Mitglieder der CDU-Fraktion in Berlin lieben.
ZEIT: Früher, als CDU-Generalsekretär, haben Sie gegen Pazifisten polemisiert. Heute predigen Sie auf Seite 46 Ihres Buches: "Man musste Gorbatschow nicht lieben und Breschnew nicht sympathisch finden, aber mit ihnen verhandeln - das entsprach der Feindesliebe der Bergpredigt."
Geissler: Die Friedensbewegung hatte damals vergessen, dass zur Nächstenliebe auch die Nothilfe und die Verteidigung von Menschenrechten gehört. Schröder, Fischer, Schily und Struck praktizieren genau das heute an der Spitze von Bundeswehr und Nato in Afghanistan und im Kosovo. Aber der Grundgedanke der Friedensbewegung war richtig, dem Gegner einen Schritt weiter entgegenzukommen, ruhig mal mehr nachzugeben, als der andere nachgeben würde, um dadurch das Verhältnis aufzulockern. Die achtziger Jahre sind mit ihrer Entfeindungspolitik letztlich ein Ergebnis jesuanischen Denkens.
ZEIT: Sehen Sie Ihr politisches Leben rückblickend immer im Einklang mit dem Evangelium?
Geissler: Im großen Ganzen ja. Aber selbst ich hätte noch mehr kämpfen können.
ZEIT: Würden Sie heute in die CDU eintreten?
Geissler: Schon - aber nur wegen ihres Grundsatzprogramms, für dessen Verwirklichung ich kämpfen würde.
ZEIT: Was würden Sie als 20-Jähriger heute machen?
Geissler: Ich würde mitmachen bei Attac, bei amnesty international, bei Greenpeace, bei Rupert Neudeck.
ZEIT: Sie schreiben, die CDU tue sich besonders schwer mit dem Evangelium. Warum?
Geissler: Weil das Evangelium stört. Besonders bei der Ausübung der Macht, wobei es kein Unterschied ist, ob man die Macht hat oder ob man sie will. Wer Macht ausübt, geht über Leichen und möchte sich nicht daran erinnern lassen, dass es auch ethische Postulate gibt. Aber eine Politik ohne moralisches Fundament läuft in die Irre.
ZEIT: Wie erklären Sie sich, dass sich die meisten deutschen Politiker auf kein geistiges System mehr berufen? Sind sie nicht intelligent genug oder uninteressiert oder vom Pragmatismus so verblendet, dass sie bloß noch fragen: Wie halte ich mich an der Macht?
Geissler: Sie stehen unter dem Diktat einer Wirtschaftsideologie, die den Beweis des ersten Anscheins für sich hat, aber letztendlich inhuman ist. Sie lassen sich vom Kapital und seinen Interessen beherrschen, anstatt sich des Kapitals zu bedienen, um eine für Menschen und Natur gerechte Ordnung zu schaffen.
ZEIT: Wie konnte eine solche Ideologie Macht gewinnen über Menschen einer C-Partei?
Geissler: Zum einen stärkten die angeblichen wirtschaftlichen Erfolge des Kapitalismus seine Position. Leute wie Angela Merkel, die plötzlich im Westen Politik machen mussten, glaubten wirklich, der Kapitalismus sei was Gutes, denn ihnen war ja jahrelang von Sozialisten eingehämmert worden, er sei schlecht. Sie ziehen also einen falschen Umkehrschluss. Der Kapitalismus ist aber so falsch wie der Kommunismus und führt in eine Vier-Fünftel-Gesellschaft. Ob es dem einen Fünftel schlecht geht, ist den anderen vier Fünfteln erst mal egal, deshalb setzen sie die Politik fort. Doch aus dem einen Fünftel werden zwei und dann drei - bis irgendwann das ganze System gekippt ist. Zum anderen fehlt einer humanen Wirtschaftsphilosophie der führende Kopf. Wir haben keine Leute mehr wie Walter Eucken, Ludwig Erhard oder Alfred Müller-Armack. Es dominieren der BDI, die Börsenanalysten und die Wirtschaftsredaktionen bestimmter Zeitungen.
ZEIT: Und die Sozialdemokraten?
Geissler: Sie sind leider ein Totalausfall. Sie müssten das Widerlager gegen die Neoliberalen bilden, sind aber selbst zu Marktfetischisten geworden. Und die Grünen wollen das Erbe der Liberalen antreten.
ZEIT: Ist Frau Merkel mit ihrem Respekt vor dem Kapital dann nicht die falschestmögliche Kanzlerkandidatin für Deutschland?
Geissler: Nein, das geht zu weit. Aber wir brauchen eine internationale soziale Marktwirtschaft, und deshalb wäre es Aufgabe der CDU, als Mutter der sozialen Marktwirtschaft diese Idee weiterzuentwickeln. Innenpolitisch gibt es zwei große Defizite. Der erste Punkt ist, dass die Rentenfrage nicht gelöst werden kann ohne eine gesteuerte Zuwanderung. Man muss die Deutschen darauf vorbereiten, vom nächsten Jahrzehnt an in einer Gesellschaft zu leben, in der der Ausländeranteil auf 25 Prozent ansteigt. Das zu sagen, trauen sich die politisch Verantwortlichen aller Parteien nicht. Und der zweite Punkt ist, dass wir die sozialen Sicherungssysteme loslösen müssen von der Finanzierung über den Lohn. Die Union geht den falschen Weg der Privatisierung. Man kann nicht ein ganzes Volk in der Pflege- und Krankenversicherung auf den Kapitalmarkt verfrachten. Die richtige Alternative wäre die Bürgerversicherung: Alle zahlen von allem für alle, die jeweils in Not sind, und die Stärkeren tragen zur Solidarität mehr bei als die Schwachen. Das ist ein evangelisches und ökonomisch richtiges Konzept. Angela Merkel lehnt es aber ab, denn sie könnte in Verdacht geraten, für eine sozialistische Einheitsversicherung zu sein. So kommt es zu einer grundsätzlichen Änderung des Denkens in der CDU. Nicht mehr die Solidarität ist das tragende Element einer Gesellschaft, sondern das Prinzip: Jeder kümmere sich um sich selber.
ZEIT: Wozu führt dieses veränderte Denken?
Geissler: Innenpolitisch zu einer Egoistengesellschaft und global gesehen zu mehr Osama bin Ladens, zu hundert Millionen ausgegrenzten, ins Abseits geratenen Menschen. In einer Demokratie hat jeder wenigstens eine Stimme, in den anderen Staaten besorgen sie sich eben Waffen - und wenn es fliegende Kerosinbomben sind.
Die Fragen stellte Sabine Rückert
Heiner Geißler: Was würde Jesus heute sagen? Die politische Botschaft des Evangeliums; Rowohlt Verlag, Berlin 2003; 155 S.
Es folgt eine PRESSE-Vorabmeldung der ZEIT Nr. 1 mit Erstverkaufstag am Montag, 22. Dezember 2003
Das komplette ZEIT-Interview der nachfolgenden Meldung finden Sie im Anhang.
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