Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Claudia Bockholt zu Kermani/Friedenspreis
Regensburg (ots)
Ich bange nicht um meinen Glauben, ich bange um die Welt": Mit einer bewegenden und aufrüttelnden Dankesrede hat Friedenspreisträger Navid Kermani der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zu der politischen Bedeutung verholfen, die der PR-wirksame Auftritt Salman Rushdies bei der Eröffnung schuldig geblieben ist. Denn bis zum Überdruss in Kameras und Mikrofone wiederholte Appelle, doch endlich Meinungsfreiheit zu gewähren, verpuffen - wir wissen es längst - bei denen, an die sie gerichtet sind. Auch unser bestätigendes Kopfnicken ist nicht genug. Die komfortablen Zeiten, in denen sich der Feuilletonleser schon qua Lektüre auf der richtigen Seite wähnen durfte, sind vorbei. Der deutsch-iranische Schriftsteller, Islamwissenschaftler und Journalist Kermani führte es eindringlich vor Augen. Die vielbeschworene europäische Wertgemeinschaft muss sich jetzt, in dieser Stunde beweisen - mehr noch durch Taten als durch Worte. Das Leben ist kurz, die Kunst lang, die Gelegenheit flüchtig, der Versuch gefährlich, die Entscheidung schwer: Hippokrates könnte das Motto geliefert haben für die Haltung Europas, das seit 2012 zusieht, wie Syrien in Blut und Chaos versinkt. Auf den Podien der Buchmesse wurden in den vergangenen Tagen Für und Wider eines militärischen Eingreifens in Syrien und Irak diskutiert, die Grenzen der Aufnahmebereitschaft für Asylbewerber und Migranten, die Frage, wie mit der durch die Flüchtlingskrise erstarkten Rechten in Europa umzugehen sei. Michel Friedman merkte warnend an, dass sie mittlerweile in gut zwei Drittel aller europäischen Parlamente vertreten sei. Doch in 30-Minuten-Formaten ist keine schnell herbeigeredete Lösung zu finden. Schon ein ganzes schreibendes Leben lang beschäftigt sich Navid Kermani mit dem Islam und dem Christentum. Er kennt die poetische Kraft des Koran, weiß, dass die Heilige Schrift eher wie ein langes Gedicht und nicht als Trennung der Welt in Richtig und Falsch gelesen werden sollte. Gerade weil er den Islam liebt, kann er hart mit ihm ins Gericht gehen. Kermani führt in seiner Rede die "Glaubensbrüder" vor, die sich eifrig auf das Wort des Propheten berufen, dabei aber Mohammeds Haus in Mekka zerstört und an seiner Stelle ein öffentliches WC errichtet haben. Weltweit schreiben sich Glaubenskrieger Werte auf die Fahnen - und haben doch nur Macht, Geld und Unterdrückung im Sinn. In Deutschland ist in den letzten Jahren wiederum viel von der Verteidigung des Abendlandes die Rede, von christlichen Werten, die wir vermeintlich ganz selbstverständlich teilen. In dieser Zeit, die laut Kermani den Verwerfungen des Ersten Weltkriegs gleichkommt, stehen sie, stehen wir auf dem Prüfstand. Vielleicht war es sogar ein wenig perfide von Navid Kermani, das Auditorium in der Paulskirche am Ende seiner Rede zu bitten, statt zu applaudieren doch lieber ein Gebet für verfolgte Christen in Syrien zu sprechen. Manch einer, der in den letzten Monaten wütend gegen eine drohende Islamisierung trommelte, hat dabei vielleicht betreten feststellen müssen, dass er nicht einmal mehr ein Vaterunser zusammenkriegt. Gleich neben der Kaaba in Mekka hat man die größte Shopping-Mall der Welt gebaut. "Der Prophet wird von Gucci und Apple überrannt", sagt Kermani. Auch in der muslimischen Welt werden "Werte" zunehmend monetär verstanden. Und was sind unsere Werte? Wofür stehen wir? Der Moment ist gekommen, diese Frage zu beantworten. Das erfordert kritische Selbstbefragung und ist mühsam. Die Buchmesse 2015 hat daran erinnert, dass das Wort Kultur von "Anbau, Ackerbau" kommt und anstrengende, aber sehr fruchtbringende Arbeit ist.
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