Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Zentralabitur
Bielefeld (ots)
Es ist schon merkwürdig: Über Bildungsthemen wird besonders gerne in den Sommerferien diskutiert, wenn die Schulen Pause haben. Aber das hat ja auch seine Vorteile. Die meisten Lehrer urlauben nach landläufiger Überzeugung derzeit auf Gomera, in der Toskana oder der Provence und bekommen vielleicht gar nicht mit, was da am grünen Tisch gerade wieder ausgeheckt wird. Sonst wären ihnen womöglich die Ferien vergällt. Aber im Ernst: Topthema in diesem Jahr ist das Zentralabitur, über das schon seit Jahren und in diesen Wochen besonders kontrovers gestritten wird. Die jüngste Meinungsumfrage bestärkt die Befürworter: Vier von fünf befragten Bundesbürgern sprechen sich für einen bundesweit einheitlichen Katalog an Prüfungsfragen aus. Also, liebe Politiker: Es wäre doch ein Leichtes, das zu beschließen, und die meisten Wähler wären zufrieden. Eine verlockende Aussicht. Doch ein einheitliches Abitur allein bringt gar nichts. Sieben Jahrzehnte Bildungsförderalismus, vier Jahrzehnte deutsche Teilung und eine vor allem im Westen chronische Reformitis haben das deutsche Schulsystem zersplittern lassen wie in keinem anderen Land Europas. Und das Abitur steht eben nur am Ende der Schullaufbahn. Entscheidend aber sind die Jahre davor. Da geht jedes Bundesland noch immer seinen eigenen Weg. Beispiel Bayern: Gerade einmal ein Drittel eines Schülerjahrgangs der allgemeinbildenden Schulen macht dort Abitur. Für die Zulassung zum Gymnasium sind ausgewiesen gute Noten in der Grundschule notwendig. Das setzt die Viertklässler unter enormen Druck (Kritiker sprechen gar vom »Grundschulabitur«) und fördert eine Sozialauswahl, die anderswo als überkommen gilt. Dafür vermittelt Bayern seinen Gymnasiasten allerdings auch deutlich mehr Lehrstoff als etwa Nordrhein-Westfalen, wo die Abiturientenquote an den allgemeinbildenden Schulen auf die 50 Prozent zugeht. Beide, die Schüler in Bayern wie die in Nordrhein-Westfalen, erlangen mit dem Abitur die Bescheinigung der allgemeinen Hochschulreife. In der Praxis sind viele bayerische Abiturienten allerdings deutlich hochschulreifer als die Gleichaltrigen aus NRW - vor allem in den mathematisch-technischen Fächern. Bevor also über einheitliche Abi-Prüfungen diskutiert wird, gilt es zu klären, was die Oberstufe sein soll: gehobene Bildungslaufbahn mit Aussicht auf Abschluss für möglichst viele junge Menschen oder Vermittlung eines verbindlichen Bildungskanons, der tatsächlich einen nahtlosen Anschluss an die Hochschulausbildung ermöglicht. Eine Debatte über diese Frage ist überfällig. Eine wirkliche Antwort darauf wird sich in den sechseinhalb Schulferienwochen allerdings kaum finden lassen.
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