Entkoppelte Lebenswelten? Erster Zusammenhaltsbericht des FGZ untersucht die Zusammensetzung sozialer Bekanntenkreise in Deutschland
Entkoppelte Lebenswelten? Erster Zusammenhaltsbericht des FGZ untersucht die Zusammensetzung sozialer Bekanntenkreise in Deutschland
Der erste Zusammenhaltsbericht des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) zeigt: Große Teile der Bevölkerung in Deutschland verfügen über homogene Bekanntenkreise – und dies beeinflusst auch ihre Weltsichten und Erfahrungen. Die stärkste Tendenz zur Netzwerksegregation findet sich demnach unter AfD- sowie Grünen-Wähler:innen, außerdem unter hochgebildeten, muslimischen sowie ländlichen Bevölkerungsgruppen. Der Bericht ist das Ergebnis einer repräsentativen Längsschnittstudie mit mehr als 12.000 Befragten. Gemeinsam mit den Unis Frankfurt und Leipzig koordiniert die Uni Bremen die Arbeit der elf teilnehmenden Hochschul- und Forschungsinstitute.
Zwischen vielen Menschen in Deutschland existieren kaum mehr Berührungspunkte, sie bleiben unter sich und bewegen sich in alltagsweltlichen „Blasen“ – so lautet eine populäre Zeitdiagnose. Der heute vorgestellte erste Zusammenhaltsbericht des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt untersucht, was an dieser weitverbreiteten Annahme dran ist und welche Rolle die Zusammensetzung der Bekanntenkreise für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland spielt.
Mit der ersten Erhebungswelle der langfristig angelegten FGZ-Zusammenhaltsstudie (Social Cohesion Panel) liegt nun erstmals ein sehr großer, repräsentativer Datensatz für Deutschland vor, der es möglich macht, ein breites Spektrum an Einstellungen, Erfahrungen, Emotionen und Praktiken von Menschen aus allen sozialen Gruppen, Milieus und Regionen im Kontext ihrer Lebensweisen und soziostrukturellen Hintergründe differenziert zu analysieren. Auf dieser Basis können auch erstmals empirisch gesicherte Rückschlüsse zu Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Bezug auf die Bedeutung der Zusammensetzung von Bekanntenkreisen der Befragten vorgelegt werden. Diese Befunde liefern wichtige Einblicke in die Verbreitung und Wirkungsweise der in den Medien viel zitierten alltagsweltlichen „Blasen“.
Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg, Soziologe der Universität Bremen, Sprecher des FGZ und einer der Hauptautoren der Studie, erklärt: „Unser Bericht zeigt, dass es die sprichwörtlichen „Filterblasen“ auch in der „analogen Welt“ gibt: Menschen, deren soziale Bekanntenkreise eher homogen zusammengesetzt sind, denken, fühlen und handeln auch anders als Personen, die sich in eher gemischten Netzwerken bewegen. Letzteres kann helfen, Verständnisbarrieren und Feindseligkeiten zwischen sozialen Gruppen abzubauen.“
Weitere zentrale Befunde des Zusammenhaltsberichts sind im Folgenden kurz zusammengefasst.
Homogene soziale Netzwerke: vor allem bei Grünen- und AfD-Anhänger:innen
Eine besonders starke Tendenz, „unter sich“ zu bleiben, finden wir vor allem bei Grünen- und AfD-Sympathisant:innen: 50 Prozent der potentiellen AfD-Wähler:innen berichten, dass sich ihre Bekanntenkreise überwiegend aus AfD-Sympathisant:innen zusammensetzen; unter potentiellen Grünen-Wähler:innen haben sogar 62 Prozent politisch homogene Netzwerke. Ebenfalls stark ausgeprägt ist diese Tendenz zur Netzwerksegregation bei Personen muslimischen Glaubens, geringer Bildung und ländlicher Wohnumgebung; weiterhin bei Ostdeutschen, Reichen und Hochgebildeten.
Einstellungen zur Demokratie: Vertrauen muss man sich leisten können
Es gibt deutliche Unterschiede in Einstellungen zur Demokratie nach Bildungsstand und Einkommen: Menschen mit sozio-ökonomisch privilegierten Netzwerken weisen tendenziell hohes politisches Vertrauen, eine relativ große Demokratiezufriedenheit und im geringen Maße populistische Einstellungen auf. Dagegen zeigen Menschen mit eher gering gebildeten oder ökonomisch schlechtgestellten Bekanntenkreisen ein geringeres Vertrauen in die politischen Institutionen, eine geringe Zufriedenheit mit der Demokratie und in erhöhtem Ausmaß populistische Einstellungen.
Negative Emotionen gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen
Eine „affektive Polarisierung“ – die übersteigerte emotionale Identifikation mit der Eigengruppe bei gleichzeitiger Abwertung der Fremdgruppe – findet sich in Deutschland vor allem zwischen konkurrierenden politischen Lagern (links vs. rechts und Grüne vs. AfD). Während Menschen mit der Absicht, die Grünen zu wählen, andere Menschen, die mit den Grünen sympathisieren, sehr positiv gegenüberstehen, lehnen sie Menschen, die mit der AfD sympathisieren, sehr stark ab. Potentielle Wähler:innen der AfD bewerten dagegen andere AfD-Anhänger:innen als sehr sympathisch und verspüren eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Anhänger:innen der Grünen. Für die meisten sozialen Gruppen mit homogenen Netzwerken ist auch die Tendenz zur affektiven Polarisierung größer. Hier bestätigt sich die Annahme, dass Kontakte und Berührungspunkte zwischen sozialen Gruppen Feindseligkeiten zwischen diesen Gruppen abmildern können.
Fazit: Netzwerksegregation begünstigt Polarisierung
Insgesamt zeigt der Zusammenhaltsbericht, dass die sozialen Bekanntschaftsnetzwerke der Deutschen keineswegs vollständig entkoppelt, aber gleichwohl in beträchtlichem Maße homogen und segregiert sind. Für die verschiedenen sozialen Merkmale, die in der Studie betrachtet wurden, zeigen sich dabei unterschiedliche Ausprägungen und Auswirkungen der Segregation. Eine lebensweltliche „Entkopplung“ sozialer Gruppen mit entgegengesetzten Einstellungen und Werten sowie feindseligen Gefühlen zeigt sich vor allem zwischen den politischen Lagern von Grünen- und AfD-Anhänger:innen.
Über das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) ist ein dezentrales und interdisziplinäres Forschungsinstitut, das 2020 gegründet wurde und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Es erforscht in über 80 Forschungs- und Transferprojekten Begriff und Konzeptionen, Quellen und Gefährdungen, Folgen und Wirkungen sowie historische, globale und regionale Kontexte und Konstellationen gesellschaftlichen Zusammenhalts aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven und methodischer Zugänge.
Das FGZ setzt sich aus elf Standorten in ganz Deutschland zusammen und nimmt dadurch auch die regionale Vielfalt gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland in den Blick. Zum Verbund gehören die Technische Universität Berlin, die Universitäten Bielefeld, Bremen, Frankfurt, Halle-Wittenberg, Hannover, Konstanz und Leipzig sowie das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen, das Leibniz-Institut für Medienforschung Hamburg und das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena. Gemeinsam mit den Universitäten Frankfurt und Leipzig koordiniert die Universität Bremen die Arbeit der elf teilnehmenden Hochschul- und Forschungsinstitute. Im Bremer Teilinstitut des FGZ arbeiten das SOCIUM, das Zentrum für Arbeit und Politik (zap), das Institut Arbeit und Wirtschaft (iaw) und das Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft (IfEK) zusammen.
Über das Forschungsdatenzentrum des FGZ (FDZ-FGZ)
Am Forschungsdatenzentrum des FGZ (FDZ-FGZ) wird in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) die zentrale repräsentative Studie des FGZ, das German Social Cohesion Panel (SCP), durchgeführt. Im SCP werden seit 2021 bis zu 17.000 Personen in jährlichen Abständen zu verschiedenen Themen befragt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt betreffen. Neben dem SCP umfasst die Dateninfrastruktur des FGZ auch eine regionale Studie (Regionalpanel), eine qualitative Studie (Qualipanel), sowie ein Datenobservatorium der sozialen Medien (Social Media Obervatory, SMO).
Weitere Informationen:
Der ausführliche Zusammenhaltsbericht sowie eine Kurzfassung sind kostenfrei zugänglich über die Website des FGZ: https://fgz-risc.de/zusammenhaltsbericht
Fragen beantwortet:
Martin Bacher
Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Standort Bremen
Universität Bremen
SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Tel.: +49 421 218-58624
E-Mail: martin.bacher@uni-bremen.de
Universität Bremen Hochschulkommunikation und -marketing Telefon: +49 421 218-60150 E-Mail: presse@uni-bremen.de Über die Universität Bremen: Leistungsstark, vielfältig, reformbereit und kooperativ – das ist die Universität Bremen. Rund 23.000 Menschen lernen, lehren, forschen und arbeiten auf dem internationalen Campus. Ihr gemeinsames Ziel ist es, einen Beitrag für die Weiterentwicklung der Gesellschaft zu leisten. Mit gut 100 Studiengängen ist das Fächerangebot der Universität breit aufgestellt. Als eine der führenden europäischen Forschungsuniversitäten pflegt sie enge Kooperationen mit Universitäten und Forschungseinrichtungen weltweit. Gemeinsam mit neun jungen Universitäten und vier assoziierten Mitgliedern aus dem Hochschul-, Nichtregierungs- und privaten Bereich gestaltet die Universität Bremen in den nächsten Jahren eine der ersten Europäischen Universitäten. Das Netzwerk YUFE – Young Universities for the Future of Europe wird von der EU-Kommission gefördert. In der Region ist die Universität Bremen Teil der U Bremen Research Alliance. Die Kompetenz und Dynamik der Universität haben zahlreiche Unternehmen in den Technologiepark rund um den Campus gelockt. Dadurch ist ein bundesweit bedeutender Innovations-Standort entstanden – mit der Universität Bremen im Mittelpunkt.