Schwäbische Zeitung: Nichts ist stärker als die Wahrheit - Leitartikel
Leutkirch (ots)
Manches Grauen lässt sich nicht beschreiben. Es finden sich keine Worte dafür. Der Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nazis, ist ein solches Grauen. Und doch: Wenn Überlebende wie Marcel Reich-Ranicki ihr eigenes Schicksal schildern, lässt sich erahnen, wie sich die Betroffenen fühlten, welche Qualen sie durchlitten. Reich-Ranicki hat nicht den mahnenden Zeigefinger erhoben, als er im Bundestag sprach und der Opfer des Nationalsozialismus gedachte. Er erzählte von sich, seinen Erlebnissen im Ghetto - und die Zuhörer konnten das Grauen erahnen. Reich-Ranicki teilte mit den Abgeordneten und den Besuchern für einen kurzen Moment seine dunkelsten Erinnerungen. Mit welcher Gelassenheit die SS-Schergen über die jüdischen Mitmenschen richteten und sie töteten. Wie er das "Todesurteil" für die Juden in Warschau entgegennahm. Wie er seine Frau heiratete, um ihr das Leben zu retten. Die Erzählung erschütterte.
Vor 67 Jahren befreiten sowjetische Soldaten die Menschen im Konzentrationslager Auschwitz. 67 Jahre sind eine lange Zeit. Ein Mensch mit 67 hat schon Kindheit, Schulzeit und ein ganzes Arbeitsleben hinter sich. Für manche liegen die Schrecken der Naziherrschaft weit zurück in der Vergangenheit. Doch bis heute werden Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Glaubens verfolgt. Wie die Morde des neuen rechtsextremen Terrornetzwerkes zeigen, ist die Bundesrepublik weit davon entfernt, ein durchweg tolerantes, friedliches Land zu sein.
So müssen Überlebende wie Marcel Reich-Ranicki von sich erzählen. In zehn Jahren wird wohl kaum noch einer von ihnen leben. Die Jüngeren müssen deswegen zuhören, solange es noch möglich ist - so lange, bis auch der Letzte verstanden hat, worum es geht. Mut und Zivilcourage sind früher wie heute im Kampf gegen Rechtsextreme gefragt. Damit nie wieder Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder schlichtweg wegen ihrer Eigenheiten verfolgt, gedemütigt und ermordet werden.
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