Schwäbische Zeitung: Das Netz ist kein Pranger - Kommentar
Leutkirch (ots)
Der Drang, Menschen vorzuverurteilen und ihnen übel nachzureden, ist so alt wie die Menschheit selbst. Früher tratschte das kleine Dorf, dank Internet heute die ganze Welt. Und was sich in den vergangenen Wochen im Netz - und besonders auf der sozialen Plattform Facebook abgespielt hat - lässt einen an ein Wiederaufleben des längst verbannten mittelalterlichen Prangers glauben. Dort wurden Menschen einst dem Spott des Volkes preisgegeben - ob schuldig oder nicht.
Fall I: In Emden wird die elfjährige Lena sexuell missbraucht und ermordet, der Täter soll ein 17-Jähriger sein. Im Internet wird zur Lynchjustiz aufgerufen, ein Mob versammelt sich vor dem Polizeigebäude. Kurze Zeit später setzt die Polizei den Teenager auf freien Fuß, er ist unschuldig und flieht aus der Stadt.
Fall II: Die Leichtathletin Ariane Friedrich bekommt eine anzügliche Mail samt Foto. Die Sportlerin stellt den vermeintlichen Absender auf Facebook bloß und die Internetgemeinde debattiert: Darf sie das? Woher will sie wissen, ob der Mann es tatsächlich selbst gewesen ist? Und woher wollen das all die Menschen wissen, die applaudieren und die Aktion völlig in Ordnung finden? Gilt hier nicht mehr die Unschuldsvermutung?
Wer durchs Netz surft, muss sich bewusst sein: Was auch immer er schreibt, die ganze Welt kann mitlesen. Das erhöht die Verantwortung, der sich jeder Teilnehmer stellen muss, auch wenn es mitunter verführerisch ist, geschützt durch Anonymität Schindluder zu treiben. Es sind also die Nutzer, die ihr eigenes Verhalten und ihre eigene Verantwortung überdenken müssen. Möchten sie elementare Grundrechte und gute Sitten außer Kraft gesetzt wissen? Sind sie sich immer bewusst, welchen Schaden sie mit ihrem Tratsch gegebenenfalls anrichten können?
Das Internet selbst ist ein Segen, in seiner Bedeutung mit der Erfindung der Dampfmaschine gleichzusetzen. Auch damals begann ein neues Zeitalter. Viele müssen nun lernen, das Netz zu benutzen!
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