Schwäbische Zeitung: Nicht schnitzen, formen! - Leitartikel
Leutkirch (ots)
Es ging nicht um den Titel. Es war nur ein WM-Qualifikationsspiel, ein 4:4 gegen Schweden. Dies kann nur behaupten, wem Fußball völlig egal ist. Denn am Dienstagabend ist im Berliner Olympiastadion sporthistorisch Einmaliges geschehen. Um das Debakel von Joachim Löws Mannschaft einzuordnen, lohnt der Blick zurück. Den größten Vorsprung, den eine deutsche Fußballnationalmannschaft jemals aus der Hand gegeben hat, war ein 4:1. Geschehen ist dies vor 100 Jahren, am 14. April 1912. Auch damals gegen Ungarn ging die Partie 4:4 aus. Deutschland war noch Kaiserreich, einen Reichs- oder Bundestrainer gab es nicht. Und es war jener Tag, an dem im Nordatlantik der Luxusliner Titanic mit einem Eisberg kollidierte und wenig später sank. Nun ist die aktuelle deutsche Nationalmannschaft weit davon entfernt, führungslos unterzugehen. Sie ist, etwas schlingernd, weiterhin auf Kurs. Doch es ist höchste Zeit, dass die Diensthabenden auf der Kommandobrücke, also Bundestrainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff, die Alarmglocke läuten. Schließlich hat diese Mannschaft das Ziel, in zwei Jahren die WM zu gewinnen. Vielleicht mag der Ausgang dieser Partie einzigartig sein, vielleicht hat der Schiedsrichter bei zwei Gegentreffern Fouls übersehen. Dennoch hat diese schwedische Aufholjagd das größte Problem der DFB-Auswahl klargemacht: Es fehlt ihr nicht an Talent und an Klasse, es fehlt ihr jene Cleverness, die beispielsweise Italiens Squadra Azzurra auszeichnet und zur Erkenntnis führt, dass ein hässliches 1:0 titeltechnisch besser ist als ein berauschendes 4:4. Natürlich hat Löw recht, wenn er sagt, er könne sich die passenden Spieler "nicht schnitzen". Könnte er es, es würden kantige Typen wie Sammer, Kahn, Matthäus, Klinsmann, Völler oder gar Beckenbauer herauskommen. Typen, die ein, zwei Gegentore nicht umhauen. Doch noch hat Löw fast zwei Jahre Zeit, seine Zauberlehrlinge Schweinsteiger, Özil, Reus und Co. zumindest zu formen, zu erden. Mit Schönspielerei allein ist nämlich noch kein Team Weltmeister geworden.
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