Schwäbische Zeitung: Kommentar zum AOK-Fehlzeitenreport - Betäubte Arbeitswelt
Ravensburg (ots)
Betäubte Arbeitswelt
Immer mehr Menschen ertragen ihren Arbeitstag nur unter Drogen. Das ist das Erschreckende am Fehlzeiten-Report der AOK. Die Tatsache, dass Arbeitnehmer zunehmend aus Druck, Versagensangst und Überlastung in die Sucht gleiten, ist weitaus alarmierender als der wirtschaftliche Schaden für die Krankenkassen und Unternehmen.
Die ganze Welt blickt mit großem Respekt auf die Leistungsfähigkeit Deutschlands. Aber viele pflichtbewusste Leistungsträger bezahlen diesen Erfolg mit ihrer Gesundheit. Die Rechnung, dass Mitarbeiter in schlechten Zeiten unter Druck und mit Angst um den Job mehr arbeiten - und in guten Zeiten häufig die Beine hochlegen und blaumachen, geht also nicht auf. Die Zahl der Fehltage insgesamt ist gleich geblieben. Blaumachen liegt nicht im Trend. Und das, obwohl es scheint, als säßen gerade die Arbeitnehmer am längeren Hebel: Es herrscht nahezu Vollbeschäftigung, Unternehmen hofieren gefragte Fachkräfte und setzen sie auf modern ausgestattete Arbeitsplätze. Frühere Generationen hätten davon nur träumen können. Klingt ja auch nach einer paradiesischen Arbeitswelt. Ist es aber oft nicht.
Für viele reicht das Feierabendbier schon lange nicht mehr aus, um nachts schlafen zu können. Zu oft genügen die Stunden zwischen Feierabend und Arbeitsbeginn nicht, um die Kraft zu schöpfen, die heute in vielen Branchen und Positionen erwartet wird. Für ambitionierte Berufsanfänger kommt erschwerend hinzu, dass allzeit volle Flexibilität in Raum und Zeit erwartet wird, was die Pflege oder gar den Aufbau eines privaten Umfelds unmöglich macht, um daraus noch Kraft zu schöpfen.
Druck nehmen, Leistung steigern, innere Leere vergessen: Jede Sucht ist ein Ventil für Probleme, die anders gelöst gehören. Alkohol und Tabletten sind schnelle, leicht erhältliche Lösungen, an denen Staat und Pharmaindustrie viel Geld verdienen. Aber Suchtkranke brauchen Hilfe, nicht etwa Verbote. Die Sucht einzugestehen, ist für Betroffene schwer genug. Krank ist eigentlich eine Arbeitswelt, in der Menschen Gift schlucken, um zu funktionieren.
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