Schwäbische Zeitung: Leitartikel: Nicht jeder braucht Abitur
Ravensburg (ots)
Thomas Mann ist es passiert und Harald Schmidt. Peer Steinbrück, Edmund Stoiber und der ehemaligen Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn auch: Sitzenbleiben an sich ist halb so schlimm. Doch dass aktuell immer mehr Kinder und Jugendliche in Baden-Württemberg das Klassenziel nicht mehr erreichen, fordert eine Reaktion von Politik und Gesellschaft. Der oft geäußerte Verdacht, dass der Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung etwas mit der gestiegenen Zahl an Sitzenbleibern im Land zu tun hat, liegt auf der Hand. Die Abschaffung der bewährten Regelung durch die grün-rote Landesregierung war ein Fehler. Denn die Empfehlung der Lehrer hatte in aller Regel Hand und Fuß und bewahrte Schüler - wie sich heute zu oft zeigt - vor einem Teufelskreis aus Überforderung, Demotivation, Frustration und Resignation. Nicht jeder Schüler muss nach vier Grundschuljahren unmittelbar auf das Gleis Richtung Abitur gesetzt werden. Die Durchlässigkeit unseres Schulsystems und die Qualität der Werkreal- und Realschulen in unserer Region geben Spätzündern immer noch die Möglichkeit, am Ende ihrer Schulzeit die Hochschulreife zu erlangen. Wenn dies denn unbedingt das Ziel sein muss. Denn gerade im Süden Deutschlands sind die Chefetagen erfolgreicher und innovativer Mittelständler oft mit Machern gespickt, die auch ohne Abitur und pflichtschuldigen Hochgeschwindigkeits-Bachelorabschluss Karriere gemacht haben und erfolgreich geworden sind. Und die sich weniger vor einem Akademikermangel als vor einem Mangel an Facharbeitern fürchten. Doch egal, welcher Bildungsabschluss am Ende herauskommt: Damit Lehrer und Eltern eine verbesserte Grundlage für die Entscheidung über die weitere schulische Laufbahn ihrer Schüler und Kinder haben, sind Konzepte für ein längeres gemeinsames Lernen der richtige Ansatz. Wer diese aus falsch verstandenem Traditionalismus ablehnt, blockiert wichtige Reformen unseres Bildungssystems.
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